LEWIS CARROLL

Gar jemsig war'n die Bürogreufs

Der Erfinder der modernen Literatur als Kinderbuch und sein Gesamtwerk in einem Band - zum Zugreif-Preis

"Alice langweilte es allmählich" so oder ähnlich fängt eines der meistübersetzten Bücher nach der Bibel an. Zwei Dutzend Versionen erschienen allein in Deutschland nach '45. Und jetzt, anläßlich des 100sten Todestages des Autors, fängt Dieter Stündels Komplettübersetzung des Gesamtwerks in einem Band mit seinem fast ganz unbekannten Meisterstück an. Nämlich nicht Alice.
Lewis Carroll, der zeitlebens Verehrerbriefe nur unter seinem richtigen Namen Charles Lutwidge Dodgson annahm, wurde zwar für Alice im Wunderland weltberühmt - aber er, und Arno Schmidt als erster Deutscher, hielt Sylvie & Bruno für die eigentliche Leistung. 20 Jahre lang bastelte der verschrobene Pfarrerssohn, Mathematiker, Stotterer und Mädchenfreund an drei kompliziert ineinander gespiegelten Erzählebenen, erfand das assoziative Schreiben und die phonetische Poesie, hatte eine fast neuzeitliche Theorie der interpretierenden Erinnerung, nahm gar Freuds Drei-Seelen-Lehre als Bauform vorweg, parodierte Erziehungsromane als Elfen-Abenteuer und kostümierte amüsante Logeleien als Liebesromanze. Die Nachwelt kürzte den 800 Seiten-Mammut auf das Kinderbuch-Zehntel - und vergaß ihn bald.
Bis auf Dieter Stündel, der sich an das verkannte Märchen erst herantraute, nachdem er das bekanntermaßen unübersetzbare Finnegans Wake aus dem James Joyceschen zu "Finnegans Wehg" gemacht hatte. Nach und nach folgte der Rest von Carroll, darunter auch zwei neue Alices ("im Wunderland" und "im Spiegelland"), ein neuer "Schnai" (bei der üblichen "Jagd nach dem Schnark" fehlten ihm die Original-Anklänge an Schlange und Hai) und viel Abgelegenes. Darunter das einzige erhaltene "Pfarrhausmagazin" von vielen altklug absurden Almanachen, die Carroll/Dodgson als Jugendlicher für die große Familie schrieb (ein Dutzend Geschwister, sämtlich zeitweise sprachgestört, was interessierte Kreise schon mal als Mißbrauchs-Indiz nahmen).
"Nicht in allen Fällen", fand Stündel beim Übersetzen, "war es dabei notwendig, sich exakt an den Inhalt zu halten"; besonders Wortspiele, Lieder und Gedichte mit im Deutschen nicht nachvollziehbaren Anspielungen auf das Bildungsgut englischer Akademiker ersetzte er rigoros durch eigene Erfindungen, gibt eher wörtliche Fassungen aber oft im Anhang dazu - und schließt in Carrolls Tradition eigene Rätsel (was war meine Nachdichtungsvorlage?" an. Enorm.
Allerdings auch ein bißchen prätentiös. Ein Partyspaß unter Elfen mit englischen Städten wirkt mit "Dresden" (drehst' den), "Denver" (denn wer) oder "Essen" doch etwas 2 tricky 4 uns. Daß andersherum das glatte Druckbild von Sylvie & Bruno hier die Unterscheidung der drei Erzählzustände (Elfen unter sich, Normalwelt und Übergangsbereich) erschwert, ist unnötig unexperimentell. Stündels erste Einzelausgabe (beim Machwerk-Verlag) machte es vor vielen Jahren durch wechselnde Einrückungen besser. Aber das ist Kleinkram.
Wer je eine Alice geliebt hat, muß sie in diesem Buch wiederlesen. Wer je über willkürliche Setzungen im deutschen Carroll stolperte (Humpty Dumpty als Goggenmoggel?), kriegt jetzt Hampti Dampti und hunderte diskutabler Varianten zum neuen Fragen. Und über 1000 Seiten voller wunderlicher Alternativ-Welten dazu.
Allerdings: Alice langweilte sich am Anfang definitiv nicht am Bachufer, sondern auf einer Teichböschung. Und die ebenso gelehrten wie giggelnden Kommentare der meist angelsächsischen Literaturkritik (am vergnüglichsten: Martin Gardner) muß man leider immer noch in den originalsprachlichen Ausgaben nachlesen. Sonst wäre das unbedingt anschaffenswerte Carroll-Hausbuch aber auch glatt einen Meter dick geworden.
WING
Lewis Carroll: Das literarische Gesamtwerk in einem Band vollkommen neu übersetzt von Dieter H. Stündel, mit allen 365 Illustrationen, herausgegeben von Jürgen Häusser. 1248 Seiten, 39.- DM