TERROR & KRIEG

Handgreifliche Nähe

Wolfgang Sofksy erklärt, warum wir die Gewalt lieben

Der Mensch ist das einzige Wesen, das um seine Sterblichkeit weiß. Sagt der Soziologe Wolfgang Sofsky. Und, sagt er, die Quelle unserer Sterblichkeit ist unser Körper. Wenn wir einen anderen Körper zerstören, zerstückeln, quälen, töten, dann erleben wir ein Stück Unsterblichkeit: der Andere ist tot, wir leben weiter. Deshalb töten wir so gerne aus der Nähe: "Auch wenn das Opfer schon blutend am Boden liegt, schlagen die Mörder weiter zu, treten in die Nieren, den Bauch, ins Gesicht. ( ...) Jeder Mörder drängt sich so dicht wie möglich an den Körper heran, um seine Hiebe anzubringen. Er will die Wirkung seiner Schläge spüren, will erleben, wie Haut aufplatzt und Schädelknochen zerbersten. ( ...) Menschen suchen die handgreifliche Nähe, prügeln auf den Körper ein, bis das blutende Fleisch sichtbar und das Innere nach außen gekehrt ist."
Derlei, sagt Professor Sofsky, liegt in der Natur der Gewalt. Die Gewalt hat ihre eigenen Gesetze der Eskalation. Sie ist uns eigen, unabhängig von sozialer Herkunft und Kultur. Keinesfalls macht diese Gewalt blind. Ein Großteil des Buches Zeiten des Schreckens - Amok, Terror, Krieg handelt davon, wie Gewalt fast immer rational eingesetzt wird. Der Amokläufer ist eben nicht blind vor Zorn - er hat sein Vorhaben meist lange geplant und führt es kalt und wachen Sinnes durch. Ein Krieg "bricht nicht aus", er wird angezettelt, um Instinkten nachzugeben (das klingt in der Verkürzung hier sehr platt, aber Sofsky argumentiert unter anderem sehr präzise, wenn es etwa darum geht, dass man Kriege nur mit Millionen williger Soldaten und KZ nur mit tausenden willigen Mördern betreiben kann).
Sofsky beschreibt die verschiedenen Typen von Gewalt, Terror und Krieg, geht dabei auch auf den 11. September in New York ein ("Große Verbrechen brauchen keine großen Ideen", schreibt er) und analysiert die neuen Marodeure, Landverwüster, gegen die schlechterdings kein Krieg zu führen ist, weil sie nichts wollen als den Krieg selbst, der ihr eigenes Überleben sichert; Somalia, Afghanistan, Sierra Leone und Kenia sind dafür gute Beispiele. Allerdings fällt ihm, in Bezug zum Beispiel auf den Kosovo, auch noch was anderes ein: "Die einzige moralische Rechtfertigung der Gewalt ist die Nothilfe. Die einzige Rechtfertigung der Kriegsgewalt ist der Sieg. ( ...) Wer sich an einem Krieg zur humanitären Nothilfe beteiligt, ohne den Sieg erkämpfen zu wollen, handelt naiv, fahrlässig, verantwortungslos." - Schröder: sechs, setzen!
Sofksys Aufsätze zum Thema sind immer dann überzeugend, wenn sie illusionslos von der Lust an der Gewalt erzählen, die angeblich in jedem Menschen steckt. Obwohl Soziologe, geht Sofsky jede Millieutheorie am Arsch vorbei.
Problematisch ist, dass er eine Menge Dinge behauptet, für die eigentlich eine kleine Armee von Hilfwissenschaftlern in Bewegung gesetzt werden müßte. Seine Argumentation über das "Sichentäußern" durch Gewalt wäre besser durch etwas Kognitionswissenschaft und Lernpsychologie abgesichert worden. Andererseits hat das Buch am Ende eine überwältigende Literaturliste, die durchzuarbeiten lohnt und zeigt, was der Herr Professor sonst noch alles liest.
Bei aller manchmal zynischen Härte hat Sofsky dennoch eine eindeutige Position. Der letzte Aufsatz des Buches - Vom Verschwinden des Grauens - beschreibt verschiedene Gedenkstätten, Lager der Nazis, und imaginiert sehr drastisch und grauenvoll, was sich damals dort abgespielt hat. Und setzt dagegen die friedliche, unbekümmerte Gegenwart, das Große Vergessen, von der Paderborner Wewelsburg bis zum Lager Ebensee, das letzte, das von den Alliierten befreit wurde. Hier wird nicht argumentiert, hier wird nur beschrieben, der ganz normale Alltag der Gewalt, des Massakers, des Massenmordes. Und wie die braven Bürger im Ort nebenan davon einfach nichts wissen konnten. Hier war Gewalt Routine, tägliches Brot. Wie beim Heckenschützen in Sarajewo, den "ethnischen Säuberungen" in Bosnien, den Massenmorden in Ruanda, Srebenica, Kosovo, Irak, Algerien ...
Thomas Friedrich
Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg S. Fischer, Frankfurt 2002, 256 S., 19,90 EU