SF

Die Frau, die James Tiptree war

Alice B. Sheldon mischte in den 70ern die Science Fiction auf. Jetzt ist ihre erste Biografie erschienen

Man muss sich die junge Alice Sheldon ein bisschen wie die Hollywood-Stars Clara Bow oder Claudette Colbert vorstellen: Witzig, gutaussehend, brillant und mit einem Charme gesegnet, mit dem sie jeden um den Finger wickeln könnte. Aber so wie etwa Claudette Colbert eine Kunstfigur fürs Kino war (und eigentlich Émilie Chauchoin hieß), so war die fröhliche Brillanz der Alice Sheldon nur eine Maske, hinter der sich eine lebenslang andauernde Depression verbarg, die schließlich zum Doppelselbstmord führte: Sheldon brachte sich und ihren Mann 1987 um.

Behütet und mit Wohlstand gesegnet aufgewachsen im Chicago der 20er und 30er Jahre, war Alice die Tochter der Afrikareisenden und Autorin Mary Hastings. Alice litt Zeit ihres Lebens unter der Dominanz ihrer Mutter; als James Tiptree jr. verstieg sie sich später ernsthaft zu der These, es gebe zwei Arten von Geschlechtern: Männer und Mütter.

Als Gesellschaftsmädel ohne Ambitionen flüchtete Alice Sheldon jung in eine chaotische und kurzlebige Ehe, begann halbherzig die Ausbildung zur Malerei und arbeitete Dank der Beziehung ihrer Eltern als Kunstkritikerin. Erst als sie in die Army eintrat, in das erste Frauenkorps im 2. Weltkrieg, schien ihr Leben Ziel und Richtung zu erhalten.

Die vorlaute Frau

Ihre Biographin Julie Phillips sieht in ihrem Buch James Tiptree Jr. Das Doppelleben der Alice B. Sheldon das nie gelöste Problem der Geschlechtsidentität als eine wichtige Ursache für Sheldons lebenslange Depression. Als geistreiche und etwas vorlaute Frau konnte sie sich in der Männerwelt kein Gehör verschaffen.

Erst als Kunstfigur und Science Fiction Autor James Tiptree jr. wurde sie ernstgenommen. Und zwar nicht nur künstlerisch, was ihr weniger wichtig gewesen zu sein scheint, sondern auch inhaltlich. Ihre meist zutiefst pessimistischen und düsteren Szenarios wurden auch als Statement gelesen. Tiptrees "männlicher" Schreibstil (die SF-Ikone Robert Silverberg wird heute noch mit Statement zitiert, Tiptree könne gar keine Frau sein, dafür sei sein Stil viel zu männlich), seine leicht feminstischen Positionen wurden ebenso verehrt wie seine Phantasie und sein knapper, direkt auf den Punkt kommender Stil. Philip K. Dick trug ihm die Co-Autorenschaft an, mit Ursula K. Le Guin war Tiptree ebenso brief-befreundet wie mit Barry Malzberg, Harry Harrison, Frederik Pohl oder Joanna Russ - der Crème de la Crème der 70er- Jahre SF, jener Dekade, in der die Raketenliteratur ernsthaft wurde und sich mit Gesellschaftsfragen befasste, bevor die Cyberpunks das Genre unter Kabeln und Memorychips begruben (im Kino beerdigte George Lucas das Genre mit Star Wars).

Einfühlsamer Macho

Und während Tiptree jr. einen SF-Literaturpreis nach dem anderen einsammelte, während er in seinen Korrespondenzen das Bild von sich als das eines einfühlsamen Machos verbreitete, einer, der seinen Schreibtischstuhl selbst zusammenleimt und dabei feministische Literatur liest, lebte Sheldon ein zurückgezogenes Leben mit ihrem zwölf Jahre älteren Mann (der tatsächlich langjährig bei der CIA war, etwas, das Sheldon als biografisches Detail von Gewicht immer wieder zugeschrieben wurde). Als Sheldons Mutter starb, machte sie per Rundbrief darauf aufmerksam, dass er, Tiptree, im Moment etwas desperat sei, da "seineö Mutter in Chicago gestorben sei. Dieser Hinweis, zusammen mit anderen biografischen Details, die Tiptree früher über sich verbreitet hatte, führte 1974 schließlich zur Enttarnung: Der markige Autor, der sich so gut in Frauen hineinversetzen konnte, der Kerl mit dem Hang zum Desaströsen und zu literarischen Storytiteln - war eine freundliche alte Dame mit Esprit und Lebenserfahrung.

Das danach einsetzende Verstummen der Stimme Tiptrees, der als Figur unbrauchbar geworden war, führte, neben dem Tod der Mutter, nach Auffassung von Julie Phillips Sheldon tief in die Depression, aus der sie nicht mehr herausfand. Zehn Jahre nach ihrer Enttarnung erschoss sie ihren schlafenden Ehemann, danach sich selbst.

Der poetische Wahnsinn Tiptrees, die geradezu visionär pessimistische Weltsicht und nicht zuletzt das Augenmerk auf den Geschlechterkampf ragen immer noch thematisch aus der auch sonst nicht unoriginellen SF-Literatur der 70er heraus. Der unsentimentale, selbstironische Stil ist heute noch mehr als gut lesbar. Tiptrees Geschichten über ökologische Katastrophen wirken heute ebenso beklemmend wie etwa "The Screwfly Solution", worin die USA sich in einen frauenfeindlich fundamentalistischen Staat verwandeln, in dem es opportun wird, Frauen zunächst zu verschleiern und später zu ermorden.

Phillips' Sheldon-Biografie ist weniger eine literarische (ihre Kenntnisse der SF-Szene sind eher mau) als eine persönliche: Warum hat eine hochintelligente, witzige, erfolgreiche Frau Zeit ihres Lebens mit Depressionen zu kämpfen? Wie kam es, dass sie nur als Mann eine "Stimme" fand, die in der Welt gehört wurde?

Doppelleben und -sterben

Eine ihrer beeindruckendsten Geschichten heißt Your Faces, Oh My Sisters! Your Faces Filled Of Light! und erzählt von einer jungen Frau, die sich durch eine postapokalyptische Welt als Botin bewegt und unterwegs von freundlichen "Schwestern" umsorgt wird; in Wahrheit spielt die Handlung in der Gegenwart. Die junge Frau ist aus einer psychiatrischen Einrichtung der Gegenwart entkommen und steuert auf ihren sicheren Tod zu. Die meist ausgezeichnete Geschichte Houston, Houston, Do You Read? handelt von drei Astronauten, die in einer männerlosen Erd-Zukunft landen. Nachdem die Frauen die drei Kerle untersucht haben, murksen sie sie einfach ab. Man hat den Eindruck: Es ist besser so.

Alex Coutts

Julie Phillips: James Tiptree Jr. Das Doppelleben der Alice B. Sheldon. Aus dem Amerikanischen von Margo Jae Warnken. Septime, Wien 2013, 783 S., mit sw.-Abb. und Personenregister, 29,- // In der auf sieben Bände angelegten Ausgabe der gesammelten Erzählungen Tiptrees sind im Septime Verlag drei Bände erschienen, ein weiterer ist für November 2013 angekündigt.