EIN RUSSISCHER SOMMER

Väterchen Frust

Probleme in der Kommune Tolstoi

Heute kennen die meisten Tolstoi nur noch als altrussischen Romantiker, der eine Art napoleonischen Dr. Schiwago geschrieben hat. Dass seine Anhänger eine Landkommune errichteten, wo sich freie Russen gegen den Zaren, die Kirche und repressive Sexualmoral auflehnten, hören viele wohl erst in diesem Biopic über Tolstois Sterbejahr 1910. Der greise Weltverbesserer hat sich mit allen überworfen, einschließlich seiner Frau.
Nicht nur der nahende Tod hat die Pressevertreter in die russische Einöde gelockt. Auch die Hoffnung auf einen ordentlichen Skandal. Man erwartet die Anreise von Tolstois Frau, und es ist keineswegs gewiss, dass Sofia (Helen Mirren) zum siechenden Gatten vorgelassen wird. Nach fast fünfzig Jahren war die Ehe in die Brüche gegangen, als Tolstoi drohte, die Rechte an seinen Werken nicht der Familie, sondern dem russischen Volk zu vermachen.
In Ein russischer Sommer beschreibt Michael Hoffman - dem doku-fiktionalen Roman von Jay Parini folgend - Tolstois letztes Lebensjahr aus der Erzählperspektive des jungen Sekretärs Walentin Bulgakow (James McAvoy), der zum Gut Jasnaja Poljana reist, wo Tolstois Gefolgsleute eine Landkommune errichtet haben, in der mit kollektiven Besitz- und Arbeitsverhältnissen und freien Liebeskonzepten experimentiert wird.
Der Meister selbst lebt weiterhin im Gutshaus mit Sofia, einer überzeugten Aristokratin, die nichts von den anarchistischen Ideen ihres Ehegatten hält. Als Tolstois Vertrauter Wladimir Tschertkow (Paul Giamatti) anreist, um den Meister zur Änderung seines Testaments zu bewegen, bricht der offene Beziehungskrieg aus.
Die deutsch-russisch-britische Co-Produktion glänzt vor allem durch ihre hochkarätige Besetzung. Christopher Plummer vermittelt auch durch den dichten Bartwuchs hindurch Tolstois Grenzwanderungen zwischen vorsenilen Anwandlungen und visionärem Idealismus. Aber natürlich hat Helen Mirren als rabiate Ehegattin die weitaus interessantere Rolle. Von bissigem Sarkasmus über zarte Verführungskunst bis zu ebenso leidenschaftlichen wie berechnenden Gefühlsausbrüchen reicht ihr Arsenal in der Ehekriegsführung.
Ohne die dramatischen, persönlichen Konflikte der Geschichte aus den Augen zu verlieren, wirft Hoffmans biografische Ausschnittvergrößerung auch einen Blick auf die gesellschaftlichen Umbrüche im vorrevolutionären Russland, wo damals schon Ideen und Visionen schwelten, die in westlichen Ländern erst in den späten sechziger Jahren ausprobiert wurden.

The Last Station D/GB/RUSS 2008 R&B: Michael Hoffman K: Sebastian Edschmid D: Helen Mirren, Christopher Plummer, James McAvoy