MARCO FERRERI

Ganz normal verrückt

Sieben Provokation in einer Boxd

Bekannt geworden ist er durch Das große Fressen , ein Film, der viel martialischer beschrieben wird als er tatsächlich ist. Und den Marco Ferreri längst nicht so gedreht hatte wie es im Drehbuch stand. In den "Extras" der DVD-Ausgabe erzählt Andrea Ferreol, wie sehr sie sich vor jener Szene gefürchtet habe, in der sie Ugo Tognazzi solange masturbieren sollte, bis der in einen Topf mit Bortsch ejakuliert. Diese Szene (und andere pronografische Ideen des Drehbuchs) kommt im Film nicht vor.
Ferreris Blick auf die Bourgeosie war meistens ein amüsierter. Schon Die Bienenkönigin , noch in Spanien entstanden, ist eine süffige Satire auf das Gehabe des aufgestiegenen Kleinbürgertums, so wie später Das große Fressen seine Kritik überaus sinnlich, beinahe schläfrig formulierte. Auch Affentraum , ein ziemlich verdrehter Abgesang auf das Ende des Macho-Kultes, lebt mehr von den schönen Bildern des Kameramannes Luciano Tovoli und weniger von dem eher geschwätzigen Drehbuch. In einem Fillm wie Mein Asyl kann man sehen, wie langweilig Ferreri-Werke sein können, wenn sie nur argumentieren (und wie eklig Roberto Benigni schon in jungen Jahren wirkte).
In Dillinger ist tot sehen wir 90 Minuten lang Michel Piccoli beim dadaistischen Großbürgerlichsein zu. Er bemalt eine Pistole rot, schläft mit dem Dienstmädchen und ermordet dann die mit ewigen Kopfschmerzen darniederliegende Gattin, um am Morgen Wohnung und Vaterland zu verlassen und anderswo neu zu beginnen.
Richtig böse und viel zu unbekannt ist Berühre nicht die weiße Frau! , ein völlig verdrehter Western, den Ferreri mitten in Paris drehte, mit Indianern auf Großbaustellen und einem wie immer göttlichen Marcello Mastroianni als schlechtgelaunter General Custer.
Ganz normal verrückt sollte damals vom Namen Bukowski befördert werden, aus dessen Storys dieses Charles Bukowski-Portrait entstehen sollte. Das wiederum ist mit dem sanften Ben Gazzara und der noch sanfteren Ornella Muti so bezaubernd fehlbesetzt, dass man heute keine Verbindung zu den Fick- und Sauf-Geschichten Bukowskis herzustellen vermag und diese farbsatte schmutzige Romanze als puren Ferreri-Kitsch begreift: Etwas neben der Spur, ein bisschen böse und bizarr, aber letztlich harmlos.
Dass aus den zum Teil seit Jahren vorliegenden DVD jetzt eine Box geschnürt wurde, ist schön. Dass darin Die letzte Frau nicht vorkommt, weniger. Dass in den (kargen) Extras das Wort "Bourgeoisie" konsequent falsch geschrieben wird, mag andeuten, wer den Kulturkampf gewonnen hat: Die Ignoranten.

Victor Lachner

I love you I/F 1986 R & B: Marco Ferreri K: William Lubtchansky D: Christopher Lambert, Eddy Mitchell, Agnès Soral, Anémone. Extras: Interviews auf Texttafeln Mein Asyl / Chiedo asilo. I/F 1979 R: Marco Ferreri. B: Gérard Brach, Marco Ferreri, Roberto Benigni K: Pasquale Rachini. D: Roberto Benigni, Dominique Laffin, Francesca De Sapio. Extras: Biografie Dillinger ist tot / Dillinger è morto. I 1986 R & B: Marco Ferreri B: Sergio Baztzini K: Mario Vulpiani D: Michel Piccoli, Anita Pallennberg, Anni Giradot. Keine Extras, Ton nur Italienisch/Französisch mit dt. Untertiteln Das große Fresse / La grande bouffe F/I 1973 R & B: Marco Ferreri B: Rafael Azcona, Francis Blanche D: Marcello Mastroianni, Michel Piccoli, Philippe Noiret, Ugo Tognazzi, Andrea Ferreol. Extras: Interview mit Andrea Ferreol, Rafael Azcona. Ganz normal verrückt / Storia di ordinaria follia I/F 1981 R & B: Marco Ferreri B: Sergio Amidei K: Franco Delli Colli. D: Ben Gazzara, Ornella Muti. Keine Extras. Berühre nicht die weisse Frau! / Touche pas à la femme blanche! F/I 1974 R&B: Marco Ferreri, B: Rafael Azcona K: Etienne Becker D: Marcello Mastroianni, Catherine Deneuve, Michel Piccoli, Ugo Tognazzi. Keine Extras. Affentraum / Ciao maschio I/F 1978 R & B: Marco Ferreri B: Gérard Brach, Rafael Azcona K: Luciano Tovoli D: Gérard Dépardieu, Geraldine Fitzgerald, Marcello Mastroianni, James Coco. Biografien als Texttafeln