KINATAY

Normale Verbrechen

Mit Wackelkamera und gefilmtem stummen Entsetzen schockierte der Film 2009 in Cannes

Wer sonst als das wackere Rapid Eye Label sollte so etwas herausbringen wie diese philippinische Independent-Monstrosität, die sich der alten Kinoweisheit bedient, dass immer das schrecklicher ist, was wir nicht zu sehen bekommen?!
Kinatay zeigt den Hochzeitstag des jungen fröhlichen Polizeistudenten Peping. Wir erfreuen uns am dichten bunten Gedränge Manilas, sehen eine wohl arme, glückliche Großfamilie beim Hochzeitsimbiss in einem eher schäbigen Lokal. Alle lachen, alle sind glücklich, der Film schwelgt in hellen, freundlichen Farben des Tageslichts.
An denen sollte man sich festhalten, denn nach gut einer halben Stunde beginnt die Nacht in Kinatay, und über eine Stunde lang wird der Film nur verwaschene, grobkörnige Bilder bieten, die uns die Abwicklung eines ganz normalen Unterweltverbrechens zeigen.
Peping hat einen Nebenjob als Assistent eines Geldeintreibers, der ihn eines Abends auffordert mitzukommen, der "Chef" habe eine "Operation" angeordnet, an der Peping teilnehmen solle. Er steigt in einen Kleinbus zu fünf schweigsamen Männern. Gemeinsam holen sie Madonna ab, eine Hure mit offensichtlich großer Klappe. Und sobald Madonna in den Wagen eingestiegen ist, beginnt das pure Entsetzen, zu erkennen vor allem in den Augen Pepings, zu hören am nicht enden wollenden Wimmern Madonnas. Fast eine weitere halbe Stunde beschreibt der Film in Echtzeit die schweigsame Fahrt der Verbrecher zu einem abgelegenen Haus. Peping hat keine Ahnung, was passieren wird. Aber zu dem Zeitpunkt geht es ihm längst wie uns, den Zuschauern: Er will nur noch hier weg - und kann sich doch nicht abwenden.
"Wenn Integrität einmal zerstört wurde, ist sie nie wieder herzustellen" steht auf Pepings T-Shirt. Den Vorgang der Zerstörung zeigt der Film mit den Bildern einer HD-Kamera, die der Nacht das letzte Licht zu entreißen versucht, damit wir zu sehen bekommen, was wir gar nicht sehen wollen.
Kinatay ist in seiner Stille, seinem völligen Verzicht auf Ästhetisierung mindestens so schockierend wie Pasolinis Salo und wahrscheinlich doppelt so brillant. Hier erzählen Blicke, kleine Gesten und ein fantastischer Schnitt die Geschichte eines jähen Absturzes. Kinatay verzichtet auf Splatter-Momente, und ist doch Zurecht "ab 18" freigegeben. So viel Schrecken war lange nicht mehr im Kino zu sehen. Kinatay ist der allertraurigste und entsetzlichste Film, der sich denken lässt. Dass er dabei weder Zuflucht im Zynismus noch in postmoderner Zitateritis sucht, dass er sich aus der Gewalt keinen Jux macht sondern uns bis in die Knochen erschreckt - auch das macht Kinatay einzigartig.

Victor Lachner

F/Philippinen 2009 R: Brillante Mendoza B: Armando Lao K: Odyssey Flores D: Coco Martin, Maria Isabel Lopez, Julio Diaz. OmU