BERLINALE 2002

BOMBEN UND LIFESTYLE

Auf der 52. Berlinale war manches anders

Fast schon aufdringlich aufbruchsmäßig kam diese Berlinale daher. Auf dem zugigen architektonischen Versuchsgelände am Potsdamer Platz wollte der neue Festivalchef Dieter Kosslick für frischen Wind sorgen. Gut gelaunte Machtwechselstimmung lag überall in der Luft. In den letzten Jahren hatte sich die Berlinale immer öfter von den amerikanischen Verleihern über den Tisch ziehen lassen. Die nutzten das Festival als Startrampe für ihre zweitklassige Handelsware und erhöhten als Gegenleistung den Starquotienten auf dem roten Teppich. Mit diesem Kuhhandel hat Kosslick Schluss gemacht. Starvehikel wie Beautiful Mind , in dem Russell Crowe als schizophrenes Mathe-Genie sich zum Oscar grimassiert, liefen ebenso außer Konkurrenz wie Robert Altmans allzu altmeisterlich ausgefallenes Ensemblefilmchen Gosford Park . Stattdessen fand sich im Wettbewerb eher schräge US-Filmkost, wie Wes Andersons skurrile Familienchronik Die Royal Tenenbaums . Bestes Independent-Kino lieferte der gebürtigen Schweizer Marc Forster mit seinem Südstaaten-Drama Monsters Ball . Ganz unpathetisch verkuppelt die schwarz-weiße Liebesgeschichte einen Todeszellenwärter (Billy Bob Thornton) mit der Witwe eines Hingerichteten (Halle Berry - Silberner Bär). Forsters Bilder sind von der stickigen Atmosphäre des amerikanischen Südens durchdrungen, in dem der Rassismus nicht nur den Schwarzen die Luft zum Atmen nimmt.
Die Ereignisse des 11.September haben auch im Berlinale-Programm deutliche Spuren hinterlassen. Im Wettbewerb ließ Kosslick die Rückkehr des politischen Kinos feiern. Der altgediente Polit-Filmer Costa-Gavras ( Z ) war mit seiner etwas geradlinig ausgefallenen Inszenierung von Hochhuths Der Stellvertreter im Rennen, und István Szabó widmete sich nach Mephisto mit seinem Furtwängler-Porträt Taking Sides erneut dem Thema Kunst und Kollaboration im Nationalsozialismus. Gleich drei Filme setzten sich auf vollkommen unterschiedliche Weise direkt mit dem Sujet des Terrorismus auseinander. Schon in den ersten Berlinale-Minuten platzte in Tom Tykwers Heaven eine Bombe und riss vier unschuldige Menschen in den Tod. Zweifellos ein mutiger Festivalauftakt, dessen moralisches Schwergewicht jedoch in Tykwers intellektuellen Groschenromankitsch verebbte. Am Morgen danach ging es gleich weiter mit dem britisch-irischen Dokudrama Bloody Sunday . Mit nervöser Handkamera rekonstruiert hier Paul Greengrass die Ereignisse des 30.Januar 1972, als britische Fallschirmjäger das Feuer auf eine katholische Bürgerrechtsdemonstration eröffneten und damit den Nordirlandkonflikt unabwendbar in einen Bürgerkrieg verwandelten. Mit zappender Parallelmontage springt Bloody Sunday zwischen den einzelnen Konfliktparteien hin und her und zeichnet ein genaues Protokoll der Eskalation. Trotz des etwas schlampigen Dokustils ist Greengrass ein intensives politisches Drama gelungen, und dafür erhielt er den Goldenen Bären (zusammen mit dem japanischen Zeichentrickfilm Spirited Away von Hayao Miyazaki).
Das Prädikat besonders umstritten ging in diesem Jahr an Christopher Roths Baader . Äußerst freizügig geht Roth mit den historischen Fakten aus Andreas Baaders Kämpfer-Karriere um. Die Biografie ist hier nur die Folie, auf der Baader über den RAF-Lifestyle sinniert - eine immerhin interessant gescheiterte Dekonstruktion des politischen Mythos.
In seinem früheren Leben war Festivalchef Kosslick oberster Filmförderer in NRW, und seine protektionistische Haltung gegenüber dem kränkelnden deutschen Filmwesen spiegelte sich auch im Berlinale Programm. Mit "Perspektive: Deutsches Kino" wurde eine zweite deutsche Filmreihe installiert, und gleich vier deutsche Produktionen hievte Kosslick in den Wettbewerb. Dabei zeigte Dominik Grafs krudes Urlauberdrama Der Felsen , dass man es auch zu gut meinen kann mit dem deutschen Film, während Andreas Dresens hinreißende ostdeutsche Alltagsstudie Halbe Treppe durch die Wettbewerbsteilnahme die verdiente Aufmerksamkeit erhielt. Weltniveau hatten allerdings weder der aufgeblasene Tykwer noch der bescheidene Dresen - auch wenn das in einem Wettbewerb, der sich eher dem politischen Bekenntnissen als den großen Kinoerlebnissen verschrieben hat, nicht weiter auffiel.

Martin Schwickert