BERLINALE 2003

IN THIS WORLD

Wie die Realität die Berlinale immer wieder einholte

So ein Filmfestival ist ein Universum für sich. Das gilt für die Berlinale ganz besonders. Nicht nur die Unmenge des Angebots (300 Filme in 10 Tagen) sorgt für einen gewissen Realitätsverlust, auch die Location. Der Potsdamer Platz, auf den sich das Festivaltreiben seit vier Jahren konzentriert, ist ein künstlich angelegter Mikrokosmos, der völlig losgelöst vom Rest der Stadt existiert. Wer sich verlieren will, ist hier während der Berlinale normalerweise gut aufgehoben. Versierte Festivaljunkies geben sich täglich mit bis zu sieben Filmen die Kante, tauchen ab in ständig wechselnde fiktionale Welten und lassen sich im Strom der Festivalbetriebsamkeit dahintreiben.
Die geübte Flucht in die Fiktion - in diesem Jahr wollte sie nicht so richtig funktionieren. Dabei fing es im Grunde genommen ganz harmlos an: mit dem Musical Chicago von Rob Marshall als idealtypischem Eröffnungsfilm. Als Catherine Zeta-Jones, Renée Zellweger und Richard Gere über den roten Teppich schlenderten, hatte Festivalchef Dieter Kosslick schon am ersten Abend den Glamourquotienten auf Cannes-Niveau angehoben. Musicals sind eigentlich ein sicherer Ort, um sich hinwegzuträumen - außer, wenn sie zu sehr vom Hinwegträumen erzählen. Gesungen und getanzt wird in Chicago nur in den Traumwelten von Renée Zellweger. Die Realität ist in Chicago ein Frauengefängnis.
Am anderen Morgen um Neun stand jedoch eine ganz andere Realitätsdosis auf dem Programm. Michael Winterbottoms In This World begleitet zwei afghanische Flüchtlinge auf ihrer Reise aus einem Lager in Pakistan nach Großbritannien, woher übrigens auch ein Teil der Bomben kam, die sie aus ihrer Heimat vertrieben haben. In This World zeigt in schnörkelloser DV-Ästhetik die unglaublichen Härten, die die Flüchtlinge auf dem Weg durch Wüstenlandschaften, verschneite Gebirge und lebensgefährliche Schiffspassagen auf sich nehmen. Immer wieder müssen sie sich dubiosen Fluchthelfern anvertrauen, deren Sprache sie nicht einmal verstehen. Bei der Überfahrt von Istanbul nach Triest werden sie in einem engen Metallcontainer versteckt. Nur der 14jährige Jamal und ein wenige Monate altes Baby überleben den Transport. Winterbottom spekuliert nicht auf Sensationen, aber wenn die Tür des Containers geöffnet wird, bleibt einem trotzdem für kurze Zeit das Herz stehen.
In This World ist ein Film, der alle zähflüssigen Debatten um Einwanderungsgesetze ad acta legt. Dass die Jury unter dem Vorsitz von Atom Egoyan diesen kleinen großen Film mit dem Goldenen Bären auszeichnete, ist mehr als ein politisches Bekenntnis.
Mit den Flüchtlingen als Verlierer der Globalisierung beschäftigten sich zwei weitere Wettbewerbsbeiträge. Der slowenische Film Ersatzteile von Damjan Kozole begleitet den Arbeitsalltag von zwei Schleppern, nimmt diese Perspektive ohne moralische Vorverurteilung ein und eröffnet damit den Blick auf die Struktur, die für das Elend der Flüchtlinge verantwortlich ist. Der deutsche Beitrag Lichter von Hans Christian Schmid ( Crazy / 23 ) widmet sich dem kleinen Grenzverkehr zwischen Deutschland und Polen in Frankfurt an der Oder. Gleich sechs Geschichten von Zigarettenschmugglern, ukrainischen Flüchtlingen, arroganten Investoren und verzweifelten Ich-Gesellschaftern werden parallel erzählt. So interessant die Überlagerungen von Wirklichkeiten in dieser west-östlichen Grenzregion auch sind Schmid gelingt es leider nicht, den menschlichen Zugang zu all seinen Figuren zu ebnen. Mit drei Produktionen war Deutschland zumindest numerisch im Wettbewerb stark vertreten. Wolfgang Beckers Wendekomödie Good Bye Lenin ! passte sich wenigstens thematisch gut in die Debatte um persönliche und politische Grenzen ein.
Auf breiter Front enttäuschte auch das französische Kino. Claude Chabrols antibourgeoisen Provinzkrimi La fleur du mal , Pascal Bonitzers Midlife-Crisis-Komödie Petites coupures und Patrice Chéreaus grobkörniges Sterbedrama Son frére (Silberner Bär für beste Regie) blieben in der eigenen Erzählroutine stecken. Allzu offensichtlich hat das Auswahlkomitee hier einfach nur auf klangvolle Namen gesetzt, statt in der Vielfalt des französischen Kinos nach neuen Talenten zu forschen.
Überraschenderweise kamen die stärksten Filme in diesem Jahr aus Hollywood. Vorbei scheint die Zeit, in der die US-Studios die Berlinale als Schrottplatz zur europäischen Weiterverwertung nutzten. Auch wenn Alan Parkers Todesstrafenthriller Das Leben des David Gale und Steven Soderberghs Stanislaw-Lem-Verfilmung Solaris hinter den Erwartungen zurückblieben, war das Niveau der amerikanischen Berlinale-Beiträge überdurchschnittlich hoch.
Mit Spannung erwartet wurde Spike Jonzes Adaption (Silberner Bär Großer Preis der Jury). Jonze und sein Drehbuchautor Charlie Kaufman zeichneten für den unterhaltsamen Geniestreich Being John Malkovich verantwortlich und machen nun den Erwartungsdruck, der nach einem solchen Überraschungserfolg in Hollywood auf jungen Filmemachern lastet, zum Thema ihres neuen Filmes. Ein mit Geheimratsecken und Speckbauch verunstalteter Nicholas Cage spielt den Drehbuchautor Charlie Kaufman, der an der Adaption eines Orchideenräuberromans zu scheitern droht, bis er auf die Idee kommt, seine eigene verzweifelte Persönlichkeit ins Skript hineinzuschreiben. Wer sich erinnert, was herauskam, als John Malkovich in Jonzes letztem Film seinen eigenen Kopf bereiste, bekommt eine Ahnung davon, welche erzählerische Saltobewegungen einen in Adaption erwarten. Vom gleichen Drehbuchautor stammte auch das Skript zu einem weiteren Wettbewerbsfilm: George Clooney Regiedebüt Confessions of a Dangerous Mind (Silberner Bär für Hauptdarsteller Sam Rockwell), in dem das Leben des zynischen Game-Show-Moderators Chuck Barris - man möchte sagen - adaptiert wird. Barris arbeitete in den 60ern nicht nur konsequent an der Trivialisierung des amerikanischen Fernsehens, sondern behauptete auch, über ein Zweitleben als CIA-Killer zu verfügen. Ähnlich wie in Adaption sind auch hier die filmischen Realitätsebenen bis ins Groteske miteinander verschachtelt. Dagegen wirkte Stephen Daldrys Virgina-Woolf-Collage The Hours schon fast konventionell, obwohl er dem Roman von Michael Cunningham folgend parallel auf drei Zeitebenen arbeitet. Mit Meryl Streep, Julianne Moore und Nicole Kidman, die jeweils ein Silberbärchen mitnehmen durften, zeigte auch The Hours , dass sich Hollywood endlich wieder an komplexere Erzählmodelle heranwagt.
Die Öffnung und das Spiel mit der Erzählstruktur und die Öffnung der Fiktion für die (politische) Realität - das war die Klammer, die das Gros der Wettbewerbsfilme verband. In der Pressekonferenz zu Spike Lees 25th Hour fragte ein Kollege, was bitteschön die Aufnahmen von Ground Zero mit der Geschichte eines Drogendealers zu tun hat, der er am nächsten Tag für sieben Jahre in den Knast wandert. "Sie haben den Film nicht verstanden", grantelte Hauptdarsteller Edward Norton pikiert zurück und hatte vollkommen recht. 25th Hour ist einer der ersten Post-Eleven-Nine-Filme, der seine fiktive Story durchlässig gemacht hat für die sich aufdrängende politische Realität.
Von dieser Durchlässigkeit schien das Berlinaleprogramm und die gesamte Festivalstimmung infiziert. Viele der angereisten Hollywood-Stars und Regisseure wie Spike Lee, George Clooney, Steven Soderbergh, Edward Norton und Dustin Hoffman nutzten die Berlinale als Plattform für ihre Kritik an der aktuellen Kriegspolitik der US-Regierung. Während der UNICEF-Gala Cinema for Peace klagte Dustin Hoffman in einer flammenden Rede Bushs präventive Kriegsstrategien und die gleichgeschaltete Medienberichterstattung an. Manchmal traute man seinen Ohren nicht, aber nur Zyniker unter den Berlinale-Besuchern witterten hinter den Aussagen der Stars eine gewiefte PR-Strategie für "das alte Europa".
Als am Samstag wenige Stunden vor der Preisvergabe, ein Teil der Anti-Kriegdemonstranten den Potsdamer Platz fluteten, vermischte sich das Filmfestspiel-Universum endgültig mit der politischen Realität, und besser hätte diese Berlinale eigentlich nicht enden können.

Martin Schwickert