127 STUNDEN

Hängen im Schacht

Danny Boyles kribbliges Körperkino für Extremsportler

Es weiß ja eh längst jeder, wie´s ausgeht: Der Held hackt sich die eigene Hand ab, um aus einer Falle zu entkommen. Was jedes Frettchen im Garten macht, ist unter Menschen seit jeher ein Heldenausweis.

Mutius Scaevola steckte im alten Rom seine Hand in ein Feuer, um Standhaftigkeit zu beweisen, Aron Ralston klemmte sie sich 2003 bei einer Klettertour zwischen Felsspalte und nachbröckelndem Stein fest. Und kam erst fünf Tage später frei, als er endlich herausfand, wie man sich selbst die Unterarmknochen bricht und mit einem stumpfen Taschenmesser das tote Fleisch abtrennt. Wer das nicht sehen will, muss etwa nach einer Stunde das Kino verlassen.

Von der ersten Sekunde an sieht der Film aus wie ein Marketing-Video für Einsamkeit und Einzelheiten. Menschenmassen tickern per Splitscreen vorbei, nur ein Mann ist ganz bei sich und stellt sein Expeditionsgepäck zusammen. Dann tost er als Extrem-Eremit mit dem Mountainbike durch das Monument Valley, legt sich schwer auf die Fresse und fühlt sich dabei aber sowas von lebendig! Er führt sich auf als König der Welt, er kennt alle Wege durch die Wüste und jetzt will er es mit Speed-Klettern dem Blue John-Canyon besorgen, schneller hindurch kraxeln als je ein Mensch zuvor, und keinem sagen, wo er lang geht.

Vorher beeindruckt er mal eben zwei Wanderinnen, die hauptsächlich auftauchen, damit man später seine Visionen als Erinnerungen erkennt. Aber auch um endgültig zu klären: Aron ist ein cooler Hund und am liebsten allein. Dann geht es ab in Mutter Natur.

Und schon schnappt die Falle zu. Verdutzt hängt der smarte Bezwinger aller Widrigkeiten plötzlich fest, nur ein paar Zentimeter über dem Boden einer engen Schlucht, und ewig entfernt von der Welt, in der keiner weiß, wo er ist. Es folgen allerlei McGywer-Momente, in denen sich Aron mit dem Taschenmesser auszugraben versucht, einen Flaschenzug zum Felsenrücken bastelt, oder gar in zunehmend fiebrigen Tagträumen entkommt.

Dann schwelgt Danny Boyle in cleveren Bildern, lässt es Rückblenden regnen und verfolgt auch mal mit subjektiver Kamera, wie der letzte Tropfen Wasser aus der Flasche läuft. Und ganz leise schiebt sich unter die Heldengeschichte vom smarten Tausendsassa auf dem coolen Weg die Legende vom Highspeed-Eremiten, der seine 40 Tage Wüste in einer Woche rum kriegt. Und erkennt, dass er die anderen braucht.

Schließlich kann er sich von sich selbst abschneiden, zurück in bewohntes Gebiet torkeln und laut um Hilfe schreien.

Aber ist das Erleuchtung? Und war es vorher wirklich eine Grenzerfahrung, einer Amputation mit Filmmusik beizuwohnen, einem Dosenbiertraum vor dem Verdursten? Aron jedenfalls, inzwischen verheiratet mit Kindern, hat sich einen Eispickel an den rechten Arm geschraubt und klettert weiter auf jeden Berg, der sich nicht wehrt. Wenigstens hinterlässt er heute immer seine Route.

Wing

USA/GB 2010. R: Danny Boyle B: Simon Beaufoy, Danny Boyle K: Anthony Dod Mantle, Enrique Chediak D: James Franco, Amber Tamblyn, Clémence Poésy