ALL OR NOTHING

In sanfter Agonie

Mike Leighs Blick auf die Verhältnisse

In Mike Leighs All or Nothing hat die Agonie viele Gesichter. In einer heruntergekommenen Neubausiedlung im Südosten Londons lebt eine Familie auf engstem Raum aneinander vorbei. Phil ist Taxifahrer - ein schlecht verdienender Ich-Gesellschafter, der bis spät in die Nacht arbeitet und morgens schwer aus dem Bett kommt. Auf seinen endlosen Fahrten durch die britische Metropole ist er zum stoizistischen Menschenkenner geworden und kann sich doch selbst am wenigsten helfen. Timophy Spall spielt diesen Phil mit unglaublich träger massiger Präsenz. Allein vom Zuschauen verlangsamt sich die Pulsfrequenz im Publikum.
Ganz das Gegenteil ist Phils Frau Penny (Lesley Manville). Sie bringt als Supermarktkassiererin das Geld nach Hause. In der übergewichtigen Familie ist sie die zierliche Außenseiterin. Ihre schnellen Bewegungen sind von angestrengter Routine bestimmt. Man sieht Penny an, dass sie sich ihr ganzes Leben lang zusammengerissen hat. Sohn Rory (James Corden) hingegen lässt sich gehen, stopft das Essen vor dem Fernseher in sich hinein und geht ab und an vor die Tür, um einen schwächeren Jungen zu verprügeln. Seine ältere Schwester Rachel (Alison Garland) ist das gutmütige Gegenmodell. Sie arbeitet als Putzhilfe in einem Altersheim und flüchtet sich zu Hause in ihr Bücherwurmdasein.
Mit gnadenloser Ruhe blickt All or Nothing auf die Nuancen der Familientristesse, die erst im letzten Drittel des Films in Bewegung kommt. Wenn der heillos introvertierte Phil mit letzter Kraft einen Streit vom Zaun bricht, wird die beklemmende Eheagonie durch einem Moment der Wahrheit weggefegt. Aber letztendlich ist es ein unerwarteter Unglücksfall, der die Familie wieder zusammenbringt.
Seit dreißig Jahren inszeniert Mike Leigh jenen sozialen Realismus, der zum Markenzeichen des britischen Kinos geworden ist und bis in gefälligere Erfolgskomödien wie Ganz oder gar nicht hineinreicht. Leighs Blick auf die Psyche seiner Figuren ist von mikroskopischer Genauigkeit und mit leiser Ironie vermischt. Anders als sein Regiekollege Ken Loach ist Leigh frei von klassenkämpferischen Attitüden. So sehr die Familie im Korsett der ökonomischen Zwänge des modernen Kapitalismus gefangen ist, die Schuld für die Entmenschlichung ihrer Beziehungen tragen sie selbst. Darauf weist All or Nothing mit unnachgiebiger Härte hin und entwickelt trotzdem ein liebevolles Verhältnis zu den Figuren. Das zeigt sich am Schluss, wenn die Familie Rory, der von einem Herzanfall niedergestreckt wurde, im Krankenhaus besucht. Der Sohn, der sein ganzes Leben lang nur Chips, Toasts und Hamburger in sich hineingestopft hat, erzählt von seiner Diätkost und dass ihm das vollkommen unbekannte grüne Zeug - gemeint ist Broccoli - gar nicht schlecht geschmeckt hat. Nach einer langen Fahrt durch den Tunnel, die All or Nothing hinter sich gebracht hat, ist dieser kleine Lichtstrahl schon fast ein Happy End.

Martin Schwickert

GB 2002 R&B:Mike Leigh K: Dick Pope D: Timothy Spall, Lesley Manville, Alison Garland, James Corden