DIE FABELHAFTE WELT DER AMELIE

Welt im Rausch

Eine amouröse Schnitzeljagd

Amélie heißt die Heldin des neuen Films von Jean-Pierre Jeunet. Während der Vorspann noch läuft, wird ihre Lebensgeschichte von der befruchteten Eizelle bis zur jungen Frau erzählt. Amélie wächst in einem Elternhaus auf, in dem sogar Goldfische in Selbstmordabsicht aus dem Glas springen. Der Vater attestiert bei der Tochter einen Herzfehler und verschreibt Familienquarantäne. Die Mutter wird von einer herunterfallenden Touristin aus Quebec erschlagen, die sich aus Liebeskummer vom Kirchturm gestürzt hat. Amélie lernt schnell, dass sich in der Fantasie besser leben lässt als in der tristen Wirklichkeit. Das Elternhaus hat sie früh verlassen und arbeitet nun in einem Café in Montmartre, in dem vereinsamte Allergikerinnen, eifersüchtige Liebhaber und erfolglose Schriftsteller täglich aufeinandertreffen.
Schon die ersten Filmminuten von Die fabelhafte Welt der Amélie sind ein erzählerischer Rausch. Im gehetzten Zeitraffer rast der Film durch Amélies Kindheit und stellt alle Figuren mit ihren jeweiligen Vorlieben und Abneigungen vor. Der Vater hasst klatschnasse Badehosen und liebt es, Tapete in großen Stücken von der Wand zu lösen. Die Mutter verzweifelt vor ihren schrumpeligen Fingern in der Badewanne, während Amélie ihre Hand gerne beim Gemüsehändler heimlich in einen Sack voll Bohnen steckt. Jeunet ist ein begeisterter Sammler von Macken, Neurosen und alltäglichen Absurditäten. Detailversessen baut er verschlungene Handlungsketten auf, um sie im Domino-Verfahren einstürzen zu lassen. Als Amélie im Radio von Lady Di's tragischem Unfalltod erfährt, lässt sie vor Schreck den Deckel ihrer Parfümflasche fallen. Der rollt über den Badezimmerboden, stößt gegen ein Fliese, die sich von der Wand löst und hinter der ein Junge vor vierzig Jahren eine Blechschachtel mit Kindheitserinnerungen versteckt hat. Nach diesem sensationellen Fund beschließt Amélie, sich aktiv in das Leben anderer Leute einzumischen. Sie findet den Doseneigentümer und engagiert sich auch weiterhin als gute Großstadtfee, die mit geübter Hand in das Schicksal ihrer Mitmenschen eingreift. Nur das eigene Glück ist schwer zu fassen. Als Amélie zum ersten Mal auf Nino (Mathieu Kassovitz) trifft, zeigt die Kamera mit Röntgenblick ihr pochendes Herz. Nino ist ein scheuer junger Mann, der als Verkäufer in einem Pornoshop und als Skelett in einer Geisterbahn arbeitet. In der Freizeit sammelt er für sein Album der Unzufriedenen auf den Bahnhöfen zerrissene Bilder, die enttäuschte Fotoautomatenkunden weggeworfen haben. Es dauert lange, bis sich Amélie und Nino in den Armen halten können, denn Amélie ist zu sehr in ihren Fantasiewelten gefangen, um sich romantischen Realitäten zu stellen. Es beginnt eine amouröse Schnitzeljagd kreuz und quer durch Paris.
Für Die fabelhafte Welt der Amélie hat Jean-Pierre Jeunet erstmalig außerhalb des Studios gedreht und ist trotzdem seiner durchkomponierten, surrealen Bildästhetik treu geblieben. Sein Paris erstrahlt als verwunschenes, urbanes Märchenland, die Kamera hat sich Amélies selektiv verklärten Blick zu eigen gemacht. Audrey Tautou ( Schöne Venus ) ist als braunäugige Glücksfee einfach hinreißend.
Einen durch und durch optimistischen Film wollte Jeunet machen. Das ist ihm gelungen, und zwar mit der gleichen kreativen Energie und anarchistischen Zügellosigkeit, mit der er in Delicatessen seine sarkastischen Fantasien auslebte.

Martin Schwickert

Le fabuleux destin d´Amélie Poulin F 2001 R+B: Jean-Pierre Jeunet B: Guillaume Laurant K: Bruno Delbonnel D: Audrey Tautou, Mathieu Kassovitz