»FALLEN ANGELS«

Farbenspiele

Nach »Chunking Express« zeigt Wong Kar-Wei die andere Seite der Medaille

Wenn man aus diesem Film kommt, fängt man nicht an, seine Geschichte zu erzählen, sondern beginnt über Farben zu schwärmen. Es ist Nacht in Hongkong, fast einen ganzen Film lang, und die Nacht dort ist heller als der Tag. Die Neonwerbung verwandelt die Straßen in ein Meer aus Farben. Das macht sich besonders gut bei regennasser Fahrbahn. Eine Frau schmachtet im grell-orangenen Licht einer Musikbox. Noch nie wurde im Kino so bunt gelitten. Nur einmal sieht man kurz den Himmel durch ein Loch, was die Häuserschluchten für die Kamera freigelassen hat, ein paar Quadratmeter groß und wenig überzeugend.
Mit Chunking Express kam vor knapp einem Jahr der erste Bilderrausch des Hongkong-Filmemachers Wong Kar-Wei hierzulande in die Kinos. Was aussah wie ein lustvoll verspielter Debütfilm, war in Wirklichkeit ein geglückter Ausbruchsversuch nach jahrelangen Routinearbeiten für Fernsehen und Leinwand. In Chunking Express kämpften in scheinbar zusammenhanglosen Geschichten zwei Polizisten mit den Dienstnummern 223 und 633 unbeholfen mit den Ungleichzeitigkeiten der Liebe. In Fallen Angels begibt sich Wong Kar-Wei auf die andere Seite des Genres: auf die Seite des Verbrechens. Chi-ming ist ein professioneller Killer und wie seine Polizistenkollegen kein Held. Er macht seinen Job mit der gleichen Langeweile wie andere im Büro sitzen: "Das Gute an meiner Arbeit ist, daß man keine Entscheidungen darüber treffen muß, wer wann und wo zu sterben hat. Das wird alles von anderen geplant." Nachdem er auftragsgemäß ein Blutbad veranstaltet hat, fährt er mit dem Linienbus nach Hause und trifft einen alten Schulfreund, der mit Versicherungen handelt. "Auch Killer haben Schulfreunde" und sind natürlich einsam. Der Killer hat eine Agentin, die die Augen unter langen Haarsträhnen versteckt und sich nach ihm verzehrt. Aber die Gesetze der Branche verbieten eine Kopplung von Gefühl und Geschäft. So kommunizieren sie per Fax. Sie macht die Pläne, verwischt die Spuren, verschafft sich Zugang zu seiner Wohnung, um sie mit Staubmaske und Gummihandschuhen aufzuräumen und auf seinem Bett zu masturbieren. Später arrangiert sie seinen letzten Job. Unerfüllte Beziehungen im Endzeitparadies der britischen Kronkolonie.
Es wird wenig geredet in diesem Film und noch weniger untereinander. He Qiwu, ein ehemaliger Sträfling mit der Nummer 223, hat ganz die Sprache verloren. Nur zum Publikum spricht er im Off-Kommentar, bei anderen drückt er sich ohne Worte umso verständlicher aus. Nachts bricht er in die Räume schlafender Ladenbesitzer ein, um deren Geschäft über die normalen Öffnungszeiten hinaus zu betreiben. Unter Gewaltandrohung zwingt er Passanten seine Dienstleistungen auf. Eine Familie muß eine ganze Nacht lang Speiseeis in großen Mengen verzehren (und bezahlen), andere flehen um Gnade, wenn der labile Nachtfriseur mit einem Haarschnitt droht. Auch er verliebt sich. In Charly, die eine Schulter zum Ausheulen braucht und sich seine nimmt. Charly liebt aber eigentlich Johnny, und der hat was mit Blondie. Zwei Einsame ergeben auch hier kein Paar. Später in einem Imbiß trifft er sie wieder. Sie trägt eine Stewardessenuniform und kennt ihn nicht mehr. Hinter ihrem Rücken leidet He Qiwu exzessiv und nonverbal, umarmt den Besen vor sich, schüttet sich Ketchup auf das weiße T-Shirt, windet sich vor Kummer. Das ist lustig und herzzerreißend zugleich.
Man sieht: das alles hat keinen richtigen Zusammenhang und wenn, dann nur einen großen, der hier nicht verraten wird. Außerdem und wie gesagt lebt Fallen Angels nicht von den Geschichten, sondern von den Bildern. Und die rasende Handkamera von Christopher Doyle, die mit aufgepflanztem Weitwinkelobjektiv den Protagonisten dicht auf die Pelle rückt und durch die nächtlichen Stadtlandschaften surft, berauscht sich an der eigenen Bildgewalt: verwischte Bewegungen, Zeitraffer, Jump Cuts, gekippte Kamera, Zeitlupe - hier wird in die Wolken gegriffen. Regisseur Wong Kar-Wei trägt bei all seinen Interviews eine Sonnenbrille. "Eigentlich hasse ich Farben", sagt er, nachdem uns die Farbwucht seines Filmes erschlagen hat.

Martin Schwickert