Anonymous

Der Earl und das Landei

Roland Emmerich sucht den wahren Shakespeare

Schon seit Jahrhunderten tobt der Streit in der Literaturwissenschaft, ob der Schauspieler, Theaterbesitzer und Geschäftsmann William Shakespeare, der 1564 in Stratford-upon-Avon als Sohn eines einfachen Handschuhmachers geboren wurde, tatsächlich der Autor von Romeo und Julia, Hamlet und Macbeth gewesen ist.

Die illustre Riege von prominenten Figuren, die Zweifel an der Urheberschaft anmeldeten, reicht von Siegmund Freud über Mark Twain bis hin zu Malcolm X. Die wissenschaftlichen Erörterungen zum Thema füllen einige Regalmeter. Wie kann, so fragen die Zweifler, ein ungebildetes Landei wie Shakespeare, der aus einer Familie von Analphabeten kam, wahrscheinlich nur eine rudimentäre Schulbildung erhielt und von dem bis auf sechs krakelige Unterschriften keinerlei Schriftdokumente erhalten sind, diese genialen Theaterstücke verfasst haben? Tragödien, Komödien und politische Intrigendramen, die profunde Kenntnisse von Philosophie, Rechtsprechung, höfischer Sitten, griechischer, lateinischer, französischer und italienischer Sprache, antiker wie moderner Geschichte aufweisen und die englische Sprache mit einem Wortschatz von geschätzten 34.000 Wörtern nachhaltig bereichert haben - alles verfasst vom Sohn des Handschuhmachers?

Über fünfzig Bewerber auf den Thron des wichtigsten britischen Dramatikers wurden in den letzte zweihundert Jahren ermittelt. Als Favorit schälte sich der 17. Earl of Oxford Edward de Vere heraus, ein gebildeter Mann und Theaterliebhaber, dessen adliger Stand es nicht zugelassen hätte, sich als niederer Stückeschreiber zu outen.

Mit seinem neuen Film Anonymous reiht sich Roland Emmerich mit der geballten Macht eines Mainstream-Filmemachers bei den "Oxfordianern" ein, die von den traditionellen "Stratfordianern" ebenso feindsinnig beäugt werden wie einst die Capulets von den Montagues.

Der schwäbische Hollywood-Regisseur, der zuletzt mit 2012 mal wieder seine Weltuntergangsfantasien digital inszenierte, will mit diesem Film Abschied nehmen vom Image als "Master of Desaster". Und so hat er in den Babelsberger Filmstudios das London des 16.Jahrhunderts auferstehen lassen und durch ein paar Historienpixeleien aufgepeppt. Rhys Ifans spielt den Earl of Oxford, der schon in jungen Jahren nicht nur eine große Leidenschaft für Dichtung und Theater entwickelt, sondern auch für die junge Elisabeth (Joely Richardson), die die Affäre jedoch auf dem Weg zur königlichen Macht beenden muss.

In traditioneller Rückblendenmontage kehrt Emmerich immer wieder in die Jugendjahre der Herrscherin zurück und entschlüsselt mit den Reisen in die Vergangenheit häppchenweise das Intrigenspiel bei Hofe. Derweil feiern die Stücke des Earl auf der Bühne eines heruntergekommenen Theaters ihre größten Erfolge. Als das Publikum nach begeistert nach dem Autor des Stückes ruft, drängt sich der Schauspieler William Shakespeare auf die Bühne und wird fortan als Dichter gefeiert.

Der Earl akzeptiert den windigen Mimen als Strohmann, der allerdings immer dreistere finanzielle Forderungen und die Errichtung eines neuen Theaters fordert.

Währenddessen braut sich am englischen Hof eine Intrige gegen die mittlerweile deutlich gealterte Queen (Vanessa Redgrave) zusammen, und der Earl kämpft mit der Kraft der Bühne und des Wortes gegen Verschwörung an.

Emmerich hat einen veritablen Historienfilm gedreht, der sein literaturwissenschaftliches Thema unterhaltsam unter das Massenpublikum zu bringen versucht.

Was dem Film leider fehlt, ist ein spielerischer und lustvoller Umgang mit den Stücken Shakespeares, die hier nur als Pop-Zitate ins Historienspektakel eingebaut werden, das in typischer Emmerich-Manier als geradliniges, widerspruchsfreies Unterhaltungskino heruntergesurrt wird.

Martin Schwickert

D/GB 211 R: Roland Emmerich B: John Orloff K: Anna J. Foerster D: Rhys Ifans, Vanessa Redgrave, Joely Richardson