»ANTONIAS WELT«

Erdenmutter

Schmalz und Scholle in der Frauen-Kommune

Anfang der 80er Jahre erregte Marleen Gorris mit ihrem Debütfilm "Die Stille der Christine M." großes Aufsehen. Die Geschichte dreier Frauen, die in einer Boutique zufällig aufeinandertreffen und den Ladenbesitzer umbringen, als er eine von ihnen des Diebstahls verdächtigt, avancierte damals zum feministischen Kultfilm. Der tiefschwarzen Sicht auf den Geschlechterkampf jener Jahre stellt die niederländische Regisseurin in Antonias Welt ein weichgezeichnetes matriarchales Schnulzenepos entgegen.
Nach dem 2. Weltkrieg kehrt Antonia als selbstbewußte Mittdreißigerin mit Tochter Danielle in das Dorf ihrer Kindheit zurück. "Back to the roots" übernimmt sie Haus und Hof ihrer Vorfahren und sammelt weitherzigerweise eine illustre Schar dörflicher Outlaws um sich: den Dorfdeppen mit den abstehenden Ohren, genannt Lippen Willem, den nihilistischen Ortsphilosophen Krummfinger, die Leichenwäscherin und Cafébesitzerin Olga, einen lebensfrohen, aus dem Kirchendienst desertierten Kaplan und die behinderte und mißbrauchte Deedee - alle finden sie Zuflucht im Schoße der eigensinnigen Übermutter. Derweil wird gesät und geerntet, und überhaupt geht es recht fruchtbar zu in dieser epischen Frauenchronik. Eins mit dem Zyklus der Natur wird hier über drei Generationen das weibliche Wir-Gefühl zelebriert. Nicht ein Konflikt trübt die solidarische Frauengemeinschaft, die Männer zwar als Randfiguren zuläßt, aber nie die Fäden aus der Hand gibt. Tochter Danielle reift zu einer begabten Künstlerin, will ein Kind, aber keinen Mann. Ein Märchenprinz für eine Nacht ist schnell gefunden, und Enkelin Therese ist ein wahres Wunderkind, das schon im Vorschulalter Schopenhauer rezitiert. Urenkelin Sarah setzt die talentierte weibliche Erbfolge fort und wächst zu einer begnadeten Dichterin heran. Natürlich gibt es auch Böses in der Welt, aber das hat seinen Ursprung außerhalb der prototypischen Kommune: Herrschsüchtige Großbauern, bigotte Pfaffen und ein Vergewaltiger in Fremdenlegionärsuniform bevölkern den Rest des Dorfes. Außerdem ist da auch noch das Schicksal, das es bekanntlich nicht immer gut meint. So sterben irgendwann aus einem dramaturgisch nicht nachvollziehbaren Grund einige liebenswerte Menschen hintereinander weg. Aber das ist eben der Lauf der Zeit.
Ja, ja, die Zeit, überhaupt das Leben und dessen Vergänglichkeit - viel Verzichtbares wird hierüber zum besten gegeben. Aus dem Off gesprochene Lebensweisheiten wie "Die Tage reihten sich aneinander, bis Wochen und Jahre daraus wurden" oder "Selbstzufrieden pflanzte die Zeit sich fort, ohne je etwas anderes zu gebären als sich selbst", dürften auch die wohlgesonnensten Teile des Publikums an den Rand der Verzweiflung treiben. Dazu ein frischgepflügter Acker, das Rascheln des Herbstlaubes oder die strahlende Antonia, die säenderweise über den Horizont gleitet. Da wird die zur Schau getragene Harmonie zur ausgeklügelten Foltermethode im Kinosaal.
Dabei ist in Ansätzen durchaus erkennbar, was aus dieser Filmidee hätte werden können. Die Umkehrung der Machtverhältnisse, das Märchen einer von Frauen regierten Welt - daraus hätte mit ein wenig mehr Humor und mit deutlich weniger urmütterlicher Erdverbundenheit ein geniales, meinetwegen auch lehrreiches Verwirrspiel werden können. Die Momente jedoch, in denen der Film sich Spuren von Selbstironie leistet (z.B. wenn die bekennende Gebärfetischistin Letta auf den Plan tritt), sind selten und versinken sofort wieder in einem seichten, lebensbejahenden Pathos und in dem epischen XXL-Format der Erzählung.
Marleen Gorris konnte mit Antonias Welt " in diesem Jahr den Oscar für den "Besten fremdsprachigen Film" einheimsen, und als vulgär-feministisches Erbauungsmärchen wird dieser Film sicherlich - wie es in der Sprache der Kinobetreiber so schön heißt - sein Publikum finden. Allen Warnungen zum Trotz.

Martin Schwickert