AUTO FOCUS

Spass-Sucht

Paul Schrader entdeckt in den 60ern einen echten Sex-Maniac

Männer müssen einfach Spaß haben" lautet, in einer Abwandlung des "Playboy"-Mottos, der Schlusssatz von Paul Schraders Auto Focus . Dazu schaut ein Mann in die Kamera, der sich im Verlauf des Filmes in ein hormongesteuertes Wrack verwandelt hat; die Betonung liegt hier auf "müssen", weniger auf "Spaß".
Wenn das amerikanische Kino über verlotterte Lebensführungsmodelle reden will, geht es gerne zurück in die späten 60er Jahre, die Zeit des liebestollen "Anything Goes", in der schon Boogie Nights und zuletzt Confessions of a Dangerous Mind angesiedelt waren. Damals gab es schon die Pille, noch keine AIDS-Paranoia und genügend Tabus, gegen die man kokett verstoßen konnte. Bob Craine ist Mitte der 60er noch ein mittelmäßig erfolgreicher Radiomoderator und Amateurschlagzeuger, mit Eigenheim, Cabriolet, treusorgender Ehefrau und wohlerzogenen Kindern, die zum Frühstück genügend Milch trinken. Als sein Traum von einer Karriere beim Fernsehen wahr wird, gerät Craine langsam auf die schiefe Bahn. Die Nächte feiert er in Oben-Ohne-Bars durch, in der Garage stapeln sich die Pornohefte, und mit seinem Kumpel John Carpenter (Willem Dafoe) reißt er - seine Popularität als Fernsehstar ausnutzend - regelmäßig Frauen im Doppelpack auf.
Es ist die Zeit, in der sich die Videotechnik gerade ihren Weg in die privaten Haushalte bahnt und eine neue Ära des Voyeurismus einleitet. Carpenter ist Entwickler bei einem japanischen Konzern namens Sony und hat stets das neueste Equipment zur Hand. Ihre Hotelzimmerorgien nimmt das Aufreißer-Duo auf großformatiges Magnetbänder auf, um sich auch postkoital daran zu erfreuen. Natürlich fliegt Craines Doppelleben irgendwann auf, und nach der Scheidung findet er eine Partnerin, die ganz im polygamen Trend der Zeit, seine Neigungen akzeptiert. Aber auch das hilft wenig, denn die Sucht und die Gier nach mehr Sex sind längst wichtiger geworden als alle persönlichen Beziehungen.
Die Story des Sexberserkers, der durch seinen lasterhaften Lebenswandel gründlich auf den Hund kommt, liest sich ein wenig protestantisch. Aber Auto Focus interessiert sich weniger für die moralischen Implikationen des Themas als für die Mechanismen der Sucht. In Filmen wie American Gigolo und Light Sleeper (mit einem sagenhaften Willem Dafoe) hat sich Regisseur Paul Schrader als obsessiver Betrachter der Obsession bewiesen. In Auto Focus beschreibt er mit amüsierter Distanz und ohne selbst in die Voyeurismusfalle zu tappen das wilde Treiben der harmlosen Kerle mit analytischer Schärfe. Greg Kinnear gibt seiner Figur eine geradezu schillernde psychische Leere. Willem Dafoe legt den Sex- und Videojunkie gleichzeitig als harmlosen Einfaltspinsel und verführerischen Mephisto an. Amüsant auch die Reise zurück in die Anfänge der Videotechnik, in der die Geräte noch Schrankkoffergröße hatten und Bilder mit Schneegrieseloptik lieferten. Trotzdem lässt einen dieses skurrile Zeit- und Suchtporträt etwas unberührt im Kinosessel zurück. Vielleicht liegt das daran, dass man hierzulande mit Craines Medienpersönlichkeit zu wenig vertraut ist. In den USA gehörte Craine zu den bekanntesten Sitcom-Stars und wurde 1978 unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet in seinem Hotelzimmer aufgefunden.
Ähnlich wie Chuck Barris, den Clooney in Confessions of a Dangerous Mind porträtierte, und Andy Kaufman, dem Milos Forman in Der Mondmann eine Hommage widmete, gehört auch Craine zu den mythischen Figuren der amerikanischen TV-Geschichte, die allerdings außerhalb ihres Herkunftslandes nur eine eingeschränkte Wirkung entfalten.

Martin Schwickert

USA 2002 R: Paul Schrader B: Michael Gerbosi K: Fred Murphy D: Greg Kinnear, Willem Dafoe, Rita Wilson