AVATAR

Blaue Ureinwohner

Camerons Meisterstück ist in jeder Hinsicht überwältigend

Wenn Jake Sally (Sam Worthington) in ein Bett aus gallertartiger Flüssigkeit steigt und den Deckel über sich schließt, macht er einen Schritt, den viele Videogame-Konsumenten im Kleinen tagtäglich mit dem Hochfahren der Spielkonsole vollziehen: Sein Geist verlässt den Körper und begibt sich auf die Reise in eine fantastische Welt.

Jake ist ein verletzter Krieger. Der ehemalige US-Marine muss den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen. Da ist die Verlockung groß, in den Körper eines anderen zu schlüpfen. Anstelle seines verstorbenen Zwillingsbruders wird der Kriegsinvalide auf einen Lichtjahre entfernten Planeten beordert. Auf Pandora gibt es ein seltenes Mineral, dass die Energieprobleme der Menschheit lösen und den beteiligten Konzernen Milliardengewinne bescheren könnte. Die Atmosphäre ist für den menschlichen Körper giftig, weshalb das wissenschaftliche Team um Dr. Grace Augustin (Sigourney Weaver) ein Verfahren entwickelt hat, in dem die menschliche DNA mit der der humanoiden Ureinwohner gekreuzt wird. Der künstliche Körper kann sich ferngesteuert vom menschlichen Geist durch die Wildnis Pandoras bewegen. Während die Wissenschaftlerin an der Erforschung der bizarren Natur und des Lebens der Eingeborenen interessiert ist, will der Kommandeur der Söldnerarmee Quaritch (Stephen Lang) Jake als Spion benutzen, um die Bewohner Pandoras militärisch zu unterwerfen.

Mit seiner 230 Millionen Dollar schweren Produktion Avatar entwirft James Cameron mit einer wirklich beeindruckenden Effekt-Palette und überbordendem visuellen Ideenreichtum eine fantastische Welt, wie man sie bisher im Kino sicherlich noch nie gesehen hat. Aber Avatar erzählt auch eine alte Geschichte. Mit den hereinbrechenden Kolonialisten, die mit militärischer Überlegenheit und ökonomischer Profitgier die Eingeborenen zu unterwerfen versuchen, spiegelt der Film unübersehbar und äußerst kritisch die Gründungsgeschichte der USA.

Die riesenhaften Ureinwohner der Na'vi mögen vielleicht unter kinoästhetischen Gesichtspunkten als Identifikationsfiguren wenig taugen, aber mit ihrem naturphilosophischen Wissen sind sie der Menschheit weit voraus. Die Parallelität zur Lebensweise der "native americans" ist offensichtlich und die Rücksichtslosigkeit der im Goldrausch befindlichen Siedler droht auch hier eine gewachsene Kultur sowie die Lebensgrundlagen des Planeten zu zerstören.

Aber Avatar ist weit mehr als ein Science Fiction-Western, der die Seiten gewechselt hat. In der fantastischen Dschungelwelt Pandoras finden sich auch immer wieder Bilder, die aus den Vietnam-Filmen der siebziger Jahre vertraut zu sein scheinen. Noch deutlicher als sein Kollege Roland Emmerich formuliert Cameron zwischen Krawall und Effektegewitter seine ökologische Botschaft. Avatar ist durchdrungen von starken visuellen Metaphern, die den Einklang beschwören, in dem die Ureinwohner mit der gefahrvollen Natur ihres Planeten leben.

Nach Titanic war Cameron als Dokumentarfilmer mehrfach in den Meerestiefen unterwegs, und das sieht man dem dichten Pandora-Dschungel mit seiner fantastischen Fauna und Flora deutlich an. Die Flugsequenzen durch die virtuellen Landschaften sind atemberaubend, auch weil sie immer dicht mit vertrauten Naturbildern vernäht und ins Fantastische überhöht sind.

Mit Avatar ist Cameron eine mehrfache Gratwanderung gelungen, die modernste High-Tech-Standards mit Naturfaszinationen, futuristische Welten mit historischer Reflektion, Videospielelemente mit cineastischem Vergnügen und rasendes Entertainment mit ökologischer Nachdenklichkeit verbindet.

Überwältigt, aber nicht platt gebügelt, verlässt man nach 161 dreidimensionalen Kinominuten wie ein Seemann schwankend den Saal.

Martin Schwickert

USA 2009 R&B: James Cameron K: Mauro Fiore, Vince Pace D: Sam Worthington, Sigourney Weather, Stephen Lang