BERLIN BABYLON

Wachsende Neubauten

Eine Dokumentation über Berlin im Baurausch

Die Wunden der deutschen Geschichte sind in Berlin nach dem Krieg nur unvollständig verheilt. Die Mauer zerteilte die Stadt in zwei ungleiche Hälften. Überwucherte Gleisanlagen, verfallene Hinterhöfe und zugige Freiflächen präsentierten sich sektorenübergreifend als unübersehbare Narben im Stadtbild.
Dann kam 1989. Mit dem Fall der Mauer versuchten sich die beiden Stadthälften vertragsgemäß zu vereinigen. Bauboom und Hauptstadtwahn verwandelten Berlin in eine unübersichtliche Gruben- und Kranlandschaft, und die symbolträchtige Mitte wurde zum umkämpften Terrain für Architekten, Städteplaner und parteipolitische Profilneurosen.
Hubertus Siegert dokumentiert mit Berlin Babylon eine Metropole im städtebaulichen Rauschzustand. Die Kamera schwebt über den preußisch-geraden Grundrissen der Stadt, blickt auf einstürzende Plattenbauten und studiert die monströsen Ästhetik moderner Großbaustellen. Mit langen Krakenarmen verfüllen die Betonmischer die Fundamente der neuen Regierungsbauten, und hinter den Rohbau-Skeletten am Potsdamer Platz versinkt die Sonne in glühendem Rot. Dazwischen die Bauherren im Gespräch und bei der Arbeit. Architekten, Baustadträte und Projektentwickler sinnieren vor maßstabgetreuen Styropor-Modellen, windigen Brachflächen und unübersichtlichen Baugruben über die Zukunft der Stadt. Siegert blickt auf ihre Gönnerposen mit ruhiger Ironie, ohne verleumderische Gesten.
Die Namen der Politiker und Stararchitekten werden erst im Abspann genannt.
Im Film zählt nur ihre Funktion im nervösen Baubetrieb, der die historischen Wunden der Stadt im Schnellverfahren verarzten will. Die Gigantomanie verbirgt die Ratlosigkeit nur mühsam. Seltsam sprachlos bleiben die ausführenden Kräfte im babylonischen Baugeschehen: Unterwasserbetonierer, Kranführer und Poliere zeigt Siegert bei der schweißtreibenden Arbeit, ohne das Gespräch mit ihnen zu suchen. Auch er bevorzugt die Vogelperspektive.
Der übersteigerten Betriebsamkeit der Baubranche werden die atemberaubend ruhigen Aufnahmen der Kameramänner Thomas Plenert und Ralf K. Dobrick entgegengesetzt. Berlin Babylon gehört zu den wenigen Dokumentarfilmen, die sich der Leinwand und nicht dem Bildschirm verschrieben haben. Mit seinen erlesenen Bildkompositionen von einstürzenden und emporschießenden Neubauten spielt Hubertus Siegert auf der ganzen Klaviatur cineastischer Möglichkeiten und komponiert die stimmungsvolle Symphonie einer Hauptstadt zwischen Größenwahn und Unvermögen.

Martin Schwickert

D 2001 R&B: Hubertus Siegert K: Ralf K. Dobrick, Thomas Plenert