BIG FISH


Bilderrausch

Tim Burton entdeckt die Südstaaten

Ein ganzes Feld mit Narzissen hat Ed vor dem Studentenwohnheim angelegt, um das Herz seiner Angebeteten zu gewinnen. Andere hätten es mit einem Strauß Blumen versucht. Aber mit solch romantischem Kleckerkram gibt sich ein Edward Bloom nicht zufrieden. Ed strebt nach Größerem. Leuten wie ihm liegt die Welt zu Füßen, weil sie sich mit der Begrenztheit des eigenen Lebens nicht abfinden wollen. Dabei ist Ed eigentlich nur ein kleiner Handlungsreisender mit Frau, Kind, Eigenheim und weiß gestrichenem Gartenzaun. Aber er hat eine blühende Fantasie und in den Geschichten, die der Vater abends am Bett dem Sohn erzählt, wird er zum Helden seines ganz persönlichen Universums. Dort verwandelt sich der harmlose Vertreter in einen Abenteurer, der es mit einem Riesen aufnimmt, der sich barfuss durch dornige Märchenwälder kämpft, der im Krieg mit einem siamesischen Zwillingspärchen vor einer feindlichen Übermacht türmt und später als erfolgreicher Geschäftsmann selbstlos eine ganze Stadt vor dem finanziellen Ruin bewahrt.
Will (Billy Crudup) kennt sie alle in und auswendig diese Geschichten, die sein Vater (Albert Finney) auf Stichwort wie eine Jukebox ausspuckt. Auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes erzählt Ed zum hundertsten mal das Anglermärchen vom Riesenfisch, der sich nur mit einem Ehering als Köder einfangen ließ. Alle hören dem Alten gebannt zu. Nur der Bräutigam ergreift die Flucht, weil er genug hat von der Anekdotenhuberei. Ans Sterbebett seines Vaters kehrt Will aus dem Pariser Exil zurück in den amerikanischen Süden. Und er möchte von seinem Vater wissen, was alle erwachsenen Kinder von ihren Eltern wissen wollen: die Wahrheit, die im Familiendickicht immer im Verborgenen bleibt. Aber schon holt der Alte wieder zu seiner nächsten Geschichte aus ...
Planet der Affen, Sleepy Hollow, Mars Attacks, Batman - in Hollywood gehört Tim Burton zu den wenigen schillernden Regisseuren, die den Mainstream als Kunstform betreiben. Seine Fantasy-Filme gleichen expressionistischen Gemälden oder grellbunten Pop-Art-Comics, aber nur selten einem Stück Literatur. Big Fish ist nun Burtons erster literarischer Film.
Basierend auf dem gleichnamigen Buch von Daniel Wallace greift Burton die Erzählweise des Südstaaten-Romans auf, in dem Märchen und Mythen die Realität beständig verformen. Im Verlauf der Vater-Sohn-Geschichte merkt man deutlich, dass Burton im Psychologisieren etwas ungeübt ist. Der Familienzwist und das Ringen um Definitionsmacht zwischen den Generationen werden nur angerissen und verschwimmen schnell im Meer der todesnahen Versöhnlichkeit. Fast schon lästig wirkt diese Rahmenhandlung, die mit Albert Finney, Billy Crudup und Jessica Lange doch so hochkarätig besetzt ist.
Ganz er selbst ist Burton hingegen in den zahlreichen Rückblenden, wenn er die Lügenmärchen des Vaters in ausstatterische Bildorgien verwandeln kann. Da taucht Danny DeVito als Zirkusdirektor auf und sieht aus wie aus einem Fellini-Film herausgeschnitten. Helena Bonham Carter verwandelt sich in eine Hexe, in deren Glasauge sich der Tod spiegelt, und man fühlt sich in Burtons Gruselhommage Sleepy Hollow zurückversetzt.
Ewan McGregor gibt den romantischen Helden, der sich mit dem Ausdruck naiver Unschuld im Gesicht durch die bunten Fantasien seiner Figur kämpft - ein zartwangiger Odysseus, ein liebestoller Gulliver, ein tapferes Schneiderlein mit Sportwagen und Vertreterkoffer. Augenfutter sind diese surrealen Welten, die Burton ohne digitale Effekthascherei in Szene setzt.
Die Ohren hingegen müssen leiden. Burtons Hauskomponist Danny Elfman treibt die Geigen hemmungslos ins sentimentale Delirium. Jede emotionale Nuance wird vom Orchestergraben ins Fortissimo getrieben. Was in den Fantasy-Rückblenden noch als ironische Überzeichnung durchgehen mag, wirkt auf der familiendramatischen Gegenwartsebene einfach nur noch kitschig und höchst konventionell. Vielleicht hat sich Burton zu sehr in die Message des Films verliebt, der die Verschmelzung von Fantasie und Wirklichkeit zu einer eigenen Wahrheit feiert. Ein Credo, das Burton in seinen bisherigen Filmen stets praktiziert hat - ohne es gleich als aufdringliche Bekehrungsbotschaft verkaufen zu müssen.

Martin Schwickert
USA 2003 R: Tim Burton B: John August nach dem Roman von Daniel Wallace K: Philippe Rousselot D: Ewan McGregor, Albert Finney, Billy Crudup