Boyhood

Leben im Blick

Für diesen Film hat sich Richard Linklater zwölf Jahre Zeit genommen

160 Kinominuten sind eine Filmlänge, die normalerweise epischen Werken vorbehalten bleibt, in denen mindestens ein herannahender Weltuntergang verhandelt wird. Richard Linklaters Boyhood füllt dieses Format mit einem sehr viel spannenderen Sujet aus, indem er dem ganz normalen Leben beim Vergehen zuschaut. Zwölf Jahre begleitet der Spielfilm die Kindheit eines Jungen in Texas. Das Besondere an dem Projekt: Es wurde auch über zwölf Jahre hinweg mit denselben Schauspielern gedreht, die sich jeden Sommer für ein paar Tage vor der Kamera versammelten. Die Magie dieses Films besteht hier im Alltäglichen, mit dem das Reifen eines Kindes zum erwachsenen Menschen auf elementare Weise verbunden ist.

Es gibt tausende von sogenannten "Coming of Age"-Filmen, aber nur wenige, die dem Atem des Lebens so nahe kommen wie Boyhood. Der Himmel, in den der sechsjährige Mason (Ellar Coltrane) in der ersten Einstellung schaut, ist weit und offen. Und der Blick, der aus dem Himmel auf ihn geworfen wird, zeigt ein Kind mit einem zarten Gesicht, das sich nur widerwillig aus seinem Tagtraum auf dem grünen Rasen löst, als seine Mutter ihn ruft.

Olivia (Patricia Arquette) schlägt sich als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern durch. Der Vater sei in Alaska, wird Mason und seiner wenig älteren Schwester Samantha (Lorelei Linklater) erzählt. Aber eigentlich hat er sich aus dem Staub gemacht, als ihm die familiäre Verantwortung zu viel wurde. Zu jung waren die beiden. Zu früh haben sie Kinder bekommen. Zu spät kehrt Mason Sr. (Ethan Hawke) zurück, um seine väterlichen Pflichten wieder aufzunehmen. Mehr als eine Wochenend-Papa-Existenz ist für ihn nicht drin.

Das alles wird aus dem Augenwinkel wahrgenommen, in einem scheinbar zufällig ausgewählten Lebensausschnitt und aus der Perspektive des Kindes, dem die Streitigkeiten der Erwachsenen vorenthalten werden sollen und das doch fast alles mitbekommt. Und so wandert der Film durch das Leben des Jungen und erzählt von den Veränderungen, die sich über die Jahre in wechselnden Familienkonstellationen und mit einigen Umzügen ereignen. Beiläufig erkennt man die Anbahnung einer neuen Ehe der Mutter, die immer wieder an den Falschen gerät und sich mit Abendkursen und Studium zur Dozentin hocharbeitet.

Mason bleibt ein passiver, beobachtender, abwartender Junge, aber vielleicht bringt gerade diese Haltung ihn zur Fotografie, mit der er als Jugendlicher viel Zeit verbringt, zu den interessanteren Mädchen, die nicht auf Alphatiersuche sind, und zu einer Lebenseinstellung, die dem Genuss des Augenblicks der Sorge um Zukunft und Vergangenheit den Vorzug gibt.

Zwölf Lebensjahre in drei Stunden auf der Leinwand an sich vorbeiziehen zu lassen - das ist eine unvergleichlich interessante Kinoerfahrung. Mit fast schon buddhistischer Gelassenheit erzählt Linklater von diesem allmählichen Reifungsprozess, der bis auf einige wenige Momente die dramatischen Wendepunkte ausklammert. Gerade dadurch bekommt der Film seinen eigenen Fluss, der sich am Befinden der Figuren und nicht an Ereignissen orientiert. Boyhood ist ein wunderbarer Film voll von Momenten tiefer Wahrheit, die ganz unsentimental über Bande angespielt werden, um sich im Kopf des Zuschauers nachhaltig mit Leben zu füllen.

Martin Schwickert

USA 2014 R&B: Richard Linklater K: Lee Daniel, Shane Kelly D: Patricia Arquette, Ethan Hawke, Ellar Coltrane, Lorelei Linklater 160 Min.