BRASSED OFF


Die Grubenband

Das Zechensterben in England - Thema für eine Komödie?

Das britische Kino liebt sein Proletariat, so wie der deutsche Film seine Ärztetöchter, Rechtsanwälte und flippigen Radiomoderatorinnen liebt. Kein anderes Land betrachtet die Arbeiterklasse durch die Kamera mit solch liebevollem Blick wie das vereinigte Königreich. Mit Brassed Off erreicht diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt. Der Regisseur Mark Herman (Irren ist mörderisch) siedelt seine melodramatische Working-Class-Comedy in den ländlichen nordenglischen Kohlerevieren der Grafschaft Yorkshire an. Dort, wo sich einst das Herz der englischen industriellen Revolution befand, ist heute Hängen im Schacht. Zeche um Zeche wird stillgelegt. Von dem kämpferischen Elan der Streiks gegen die Thatcher-Pläne im Jahr 1984 sind nur noch leere Gewerkschaftskassen, ein paar Mahnwachen und ein riesiger Berg an privaten Streikschulden geblieben. Eigentlich geht es nur noch darum, wann, wo, zu welchen Bedingungen abgewickelt wird.
Auch bei den Mitgliedern der traditionsreichen"Grimley Brass Band", allesamt Bergarbeiter, ist die Stimmung auf dem Nullpunkt angelangt. Wahrscheinlich gehen alle im nächsten Monat schon stempeln. Wenn die Zeche dicht gemacht wird, soll sich auch die Blaskapelle auflösen. Da sind sich alle einig. Nur weiß niemand so recht, wie man es dem engagierten Dirigenten Danny (einfach bestechend: Pete Postlethwaite) beibringen soll. Der enthusiastische Vollblutmusiker mit der ruinierten Lunge träumt vom Einzug der Band beim nationalen Blasmusikwettbewerb in die Londoner Royal Albert Hall. Unterstützung bekommt Danny von der jungen Gloria (Tara Fitzgerald), die nach London ging, um dort Karriere zu machen und nun in Grimley mit ein paar schweren Koffern und einem Flügelhorn auftaucht. Die Männerband zeigt sich nicht nur von Glorias musikalischem Talent begeistert, und alle Auflösungsdebatten werden eilig ad acta gelegt. Während sich das Blasorchester an den Wochenenden bei alkoholgesättigten regionalen Wettbewerben immer größere Triumpfe feiert und sich bis ins Finale bläst, geht es in Grimley mit der Zeche bergab. Die Arbeiter nehmen das Abfindungsangebot der Arbeitgeber mehrheitlich an. Niemand glaubt mehr an einen erfolgreichen Streik. Das Privatleben der Bandmitglieder kollabiert ebenfalls: Danny wird mit einer Lungenembolie ins Krankenhaus eingeliefert, seinem Sohn Phil (Steven Tompkinson) werden die Möbel unter dem Hintern weggepfändet und Gloria entpuppt sich als Gutachterin im Auftrag des British Coal Board.
Mark Hermanns Blick auf die proletarische Männerwelt ist liebevoll ironisierend. Kerle mit pomadegestärktem Haar, unglaublichen Nasen, eindrücklichen Gesichtsfurchen und klobigen Händen entlocken Posaunen und Trompeten zarteste Töne. Wenn die Kumpels aus dem Schacht steigen, gehen sie breitbeinig westernmäßig dem Feierabend entgegen, um sich dann zu fünft in einen etwas überforderten Kleinwagen zusammenzuquetschen.
Auch vor sentimentlen Szenen schreckt der Film nicht zurück. Wenn die Band vor dem Hospital für ihren schwer erkrankten Dirigenten im Licht der Grubenlampen aufspielt, müssen sich auch Feinde des Musikvereinswesens ans Herz fassen. Brassed Off geht von der gewinnbringenden Erkenntnis aus, daß hinter jeder Tragödie auch der Stoff für eine Komödie liegt. Regisseur und Drehbuchautor Mark Herman verbindet die unversöhnlichsten Gegensätze miteinander: Melodram und Feel-Good-Movie, politische Kritik und lebensnaher Optimismus, präzise Millieubeschreibung und proletarisches Musical. Vom britischen Kino könnten deutsche Filmemacher viel lernen. Zum Beispiel, daß der Untergang der Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet oder die gnadenlose Abwicklung ostdeutscher Großbetriebe keineswegs nur Themen für spröde Fernsehreportagen in dritten Programmen sind.

Martin Schwickert