DIE ZWEITE CHANCE


Zeitlupe & Fettfilm

Die Träne quillt bei Sandra Bullock

In einer dieser Nachmittags-Talk-Shows, in denen Mitbürger freizügig ihr Privatleben ausplaudern, schlägt für Birdee (Sandra Bullock) die Stunde der Wahrheit. Vor laufenden Kameras gesteht ihre beste Freundin, daß sie ein Affäre mit Birdees Ehegatten hat. In Großaufnahme kullern die Tränen der Betrogenen auf den Fernsehbildschirmen der Nation. Grund genug für die bis dato sorgenlose Hausfrau und Mutter, Mann und Eigenheim zu verlassen. Mit der kleinen Tochter im Schlepptau geht es von Chicago südwärts ins heimatliche Texas. Zu Hause bei Muttern (Geena Rowlands) soll das angeknackste Seelchen genesen. Trennungen sind keine leichte Sache nicht, und Sandra Bullock leidet recht dekorativ bis in den späten Nachmittag hinein auf dem Bett, während die sanfte texanische Sonne sie ins rechte Licht taucht. Auch das Töchterchen leidet hinter seiner dicken Brille, wenn es mit Papa telefoniert, die neuen Klassenkameraden böse sind und sie mit ansehen muß, wie Mama auf den Hund kommt. Da taucht der gute Justin (Harry Connick jr.) auf - ein einfacher Kerl mit großem Hut, handwerklichem Geschick und Herz am rechten Fleck. Als erster hat er damals in jungen Jahren die schöne Birdee geküßt und sie nie wieder vergessen. Behutsam wirbt er um das gebrochene Herz. Wird Birdee ihren Schmerz überwinden? Ein neues Leben anfangen? Sich auf den sensiblen Justin einlassen können?
Ja,ja und nochmal ja, denn alles in Forest Whitakers Groschenromanschnulze Die zweite Chance kommt genau so, wie es selbst ungeübte Zuschauer voraussehen können. Diese hemmungslos sentimentale Das-Leben-geht-weiter-Geschichte nutzt jede noch so kleine Gelegenheit zur Schmalzproduktion. In Szenen größter Verzweiflung läuft Sandra Bullock auch schon einmal in Zeitlupe durch einen typisch texanischen Abendregen. Selbst ein an Alzheimer erkrankter Vater findet im rechten Moment zu Gedächtnis und Stimme zurück. Um die Augen feucht zu halten, wird sogar die Großmutter via Herzinfarkt geopfert. Wie ein Fettfilm klebt der Schleier der Verklärung an jedem einzelnen Bild, was vor allem bei den Brillenträgern im Zuschauerraum zu Irritationen führen wird. Mit intensivem Filtereinsatz werden die Szenen in whiskey-farbenes Licht getaucht und auf der Tonspur tun Sheryl Crow, Bob Seger, Ryan Adams und sogar Barry Manilow ihr bestes, um das Publikum in die Flucht zu schlagen. Tatsächlich tragisch an diesem Rührstück ist allerdings der fahrlässige Umgang mit Schauspieler-Ressourcen: Sandra Bullock sollte dringend den Agenten wechseln, wenn sie nicht den Rest ihrer Karriere in diesen Sweatheart-Mauerblümchen-Rollen versauern will. Geradezu systematisch wird ihr im Weichzeichner-Genre jegliches Sex-Appeal entzogen. Noch trauriger steht es um Geena Rowlands: Seit ihr Sohn Nick Cassavetes mit Ein Licht in meinem Herzen ihr Come-Back eingeleitet hat, fristet sie nun in Hollywood als Oma vom Dienst (Paulie und demnächst The Mighty) ein klägliches Dasein. Die einstige Queen des amerikanischen Independent-Kinos hätte andere Rollen verdient, aber in der amerikanischen Filmindustrie gibt es eben wenig interessante Jobs für stilvoll gealterte Damen.

Martin Schwickert