CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND

Heidi Reloaded

Japans Disney erzählt uns ein Anime-Märchen

Die Augen sind immer zu rund und zu gross, die Münder werden meist unförmig verzerrt, die Gefühle in der Regel krass überdeutlich ausgedrückt - da wo die Animes uns am japanischsten vorkommen, ist gerade ihre Nicht-Japanischkeit typisch. Und umgekehrt, noch im europäischsten Stoff steckt eine japanische Seele. Jedenfalls bei Hayao Miyazaki, der mit Heidi und der Biene Maja anfing und nun für seine Alice in Phantasien sogar einen Oscar kriegte - und viele weitere Filmpreise.
Chihiro ist 10 und schüchtern. Und vermutlich ein Wortspiel (she hero), schließlich zeichnete sich Miyazaki selbst in die Handlung und wünscht unserer Heldin einmal auf englisch Good Luck. Chihiro also ist 10 - und als ihre Eltern beim Umzug die falsche Abzweigung nehmen, stranden sie in einem verlassenen Vergnügungspark. Dort machen sich die Erwachsenen über ein herrenloses Büffet her und verwandeln sich zum Entsetzen des Kinds in Schweine. Die Sonne sinkt, Schattenwesen tauchen überall auf, nur ein seltsamer Junge rettet Chihiro vor den vermutlich bösen Geistern. Tiefer in ihr Land hinein. Chihiro muss Arbeit finden im Wellness-Center für die 875 Natur-Götter der japanischen Mythologie. Fette Trolle, freche Frösche, Riesenvögel, Monster in allen Farben und Formen werden hier von einer Armee von Geishas gebadet, gesalbt und gefüttert. Chihiro fängt als Putzlappen unter einer dämonischen Frau Holle an, übersteht allerlei komische Episoden und spricht sich dabei, gut gegen jedermann handelnd, gegen Umweltverschmutzung und Geldgier aus.
Die deutliche Moral machte schon Miyazakis Prinzessin Mononoke zum damals erfolgreichsten Film Japans und brachte seinen Durchbruch im Westen. Disney gab Geld, aus allen Ecken Europas nahm Miyazaki Motive auf, vermied aber die Verkitschung. Ganz wie im richtigen Märchen kann ein Geist erst Menschen fressen und dann doch ein guter sein, ganz wie in "Dragonball" etwa wundert es niemand, wenn ein Guter sich als zum Bösen gequälte Seele entpuppt. Und ganz anders als im Westen geht die "Psychologie" der Figuren nie ganz auf, bleibt sehr vieles unerklärt, schemenhaft, ein magischer Rest.
Fast überraschend gelingt so am Ende die Rettung der Eltern und Chihiro verläßt ihr Zauberland. Wohl wissend, dass sie es in jedem Fluss, in jedem Park wiederfinden kann, wenn sie keinen Müll hineinwirft.
Technisch ist Chihiro Reise angenehm unmodern. Man sieht die Digital-Tricks nicht, man überhört den erstaunlich klassischen Orchester-Soundtrack, aber man möchte oft die Bilder anhalten, nicht um sie genauer zu betrachten, sondern um die feinen Stimmungen länger zu geniessen. Einen Lufthauch, einen Lichtwechsel, einen traurigen Augenblick der Erschöpfung mitten im Heldenreisen. Schade, dass Amerika, trotz Oscar, nicht auf Chihiro abfuhr.

WING

Sen to Chihiro no kamikakushi. J 2001, 125 Min., R&B: Hayao Miyazaki. Stimmen: Nina Hagen, Cosims Shiva Hagen