Crash


Auto-Erotik

Liebe zwischen verbeulten Kotflügeln

Ein kurzer unkonzentrierter Moment verändert das Leben von James Ballard grundlegend. Sein Wagen kommt von der Fahrbahn ab, stößt mit voller Wucht in ein entgegenkommendes Fahrzeug. Das dumpfe Geräusch des Aufpralls, des Metalls, das sich ineinander verkeilt. Ein benommener Blick durch die zersplitterte Windschutzscheibe. Auf der anderen Seite sitzt eine unvollständig bekleidete Frau und starrt James ruhig an. Vor ihr auf der Motorhaube der frisch verstorbene Ehemann mit blutigem Schädel. Für James Ballard (James Spader) und Dr. Helen Remington (Helen Hunter) ist das nicht nur der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, sondern auch der Einstieg in eine außergewöhnliche Obsession.
Autoerotik einmal wörtlich genommen. Das intensive Karambolageerlebnis führt den sexuell und überhaupt vom Leben gelangweilten Ballard und dessen Frau Catherine (Deborah Unger) zu einer Gruppe von Auto-Fetischisten. Ihr Anführer Vaughan (Elias Koteas) propagiert die Umformung des Menschen durch die Technik, sein Körper ist von zahllosen Autounfällen eindrücklich vernarbt. In diesem Zirkel wird das Auto zum Objekt der Begierde und dessen Zerstörung zum orgiastischen Fest. Vor begeistertem Publikum werden historische Autounfälle berühmter Persönlichkeiten nachgestellt. Und wer wollte nicht schon einmal wie James Dean oder Jane Mansfield sterben? Die Community erregt sich beim kollektiven Genuß von Crash-Simultionsvideos. Und irgendwie wird es vorstellbar, daß Mitschnitte von Verkehrserziehungsfilmen wie "Der 7.Sinn" demnächst als heiße Ware unter dem Ladentisch verkauft werden.
Auf sehr direkte Weise verbindet der kanadische Regisseur David Cronenberg (Naked Lunch) in Crash Straßen- und Geschlechtsverkehr: das animiernde Schleifen des Sicherheitsgurtes, liebevolles Befummeln von zerbeulten Kotflügeln, begehrliche Blicke auf noch nicht vollständig verheilte Unfallnarben und Blutergüsse, die flirrende Erotik einer Beinprothese - das alles ist mehr als grotesk und soll es auch sein. Trotzdem entsteht auf der Leinwand ein geschlossenes, in sich stimmiges erotisches Sinnsystem. Mit knappen stilisierten Dialogen und in angenehm kühlen Bildern entwirft Cronenberg sein abstruses sexuelles Verwirrspiel, in dem die permanente Suche nach dem besten Orgasmus ad absurdum geführt wird.
J.G. Ballards Roman "Crash" von 1973, den der Regisseur mit begeisterter Zustimmung des Autors adaptiert hat, wurde in den damaligen Underground-Kreisen als Kultbuch gehandelt und galt lange Zeit als unverfilmbar. Auch an Cronenbergs Film haftet der düstere zivilisationskritische Schmauch jener Jahre, und ein wenig erinnert das ganze an den Godard-Klassiker Weekend. Cronenberg reichert jedoch Ballards warnende Visionen einer Verschmelzung von Technologie und Erotik durch einen aktuellen, bitterbösen Zeitkommentar an. Crash - das ist auch die Antwort auf die Bungeesprung-Generation, die auf der ständigen Suche nach dem ultimativen Kick von der Überholspur nicht mehr herunterkommt.
In der Art wie Cronenberg die fatale Besessenheit seiner Figuren inszeniert, begibt er sich auf den schmalen Grad zwischen Voyorismus und Denunziation des Perversen. So wirken einige Szenen eher wie ein Werbeclip der Miederwarenindustrie, und teilweise hangelt sich das Geschehen etwas mühsam von G-Punkt zu G-Punkt. Selten wurde auf der Leinwand so oft in so beengten Positionen kopuliert. Dabei werden Faszination und Ekel dicht nebeneinander gelegt, und so mancher Blick auf klaffende Narben wird beim empfindsameren Teil der Kinokundschaft zeitweiliges Unwohlsein hervorrufen.
Aber genau diese obsessive Grenzüberschreitung ist eben das Thema des Films und die Irritation des Publikums Programm. Crash wird heftige Abwehrreaktionen ebenso hervorrufen wie hilfloses Achselzucken oder produktive Verwirrunszustände - und das schaffen die wenigsten Filme.

Martin Schwickert