THE CROSSING

Der Fremde

Ein poetisch-verrätseltes Exil-Drama

Jeder Flüchtling hat eine Leidensgeschichte, die er im Exil vergeblich versucht zu vergessen. Der afghanische Immigrant Babak (Behrouz Vossoughi) lebt seit zwanzig Jahren im belgischen Brüssel. Als Waggonreiniger hat er sich hier verdingt, nun verweigert das Amt ihm die Rente, weil er keine Geburtsurkunde vorzuweisen hat.
Babak wohnt in einer heruntergekommenen Pension am Rande der Stadt. Der ungeheizte Raum ist spärlich eingerichtet: ein Tisch, ein Stuhl, ein Teekessel und eine Metallschachtel mit Erinnerungsstücken. Kein Zuhause, sondern ein provisorischer Dauerzustand. Dann steht auf einmal ein schwarz-gekleideter Fremder im Zimmer, der auf rätselhafte Weise mit seiner Vergangenheit verbunden zu sein scheint. Er spricht vom Geruch der Erde in der Heimat, von den fleckigen Äpfeln, die viel schmackhafter sind als die blankpolierten Früchte des Exils, und kocht das heimische Leibgericht. Trotzdem wehrt Babak sich gegen Vertrautheit und Erinnerungen, bis Sarban (Johan Leysen) ihn fast gewaltsam mit der schmerzhaften Vergangenheit konfrontiert.
Als karg eingerichtetes Kammerspiel hat Regisseurin Nora Hoppe ihr Kinodebüt über äußere und innere Heimatlosigkeit angelegt. Die Botschaft des Films ist leicht zu entschlüsseln: nur wer das Vergangene erinnert, kann in Gegenwart und Zukunft bestehen. Der bärbeißige Babak hat im Exil nicht nur sein Zuhause, sondern auch sich selbst verloren. Der Fremde, der in sein Leben eindringt, ist Rettungsengel und Therapeut gleichermaßen. Die schlichte Katharsis-Dramaturgie packt Nora Hoppe in einen ruhigen Erzählrhythmus und spartanische Bildpoesie. Die Landschaft am Rande der Stadt ist leergeräumt und der Innenraum nur mit dem nötigsten dekoriert. Die winterliche Kälte kriecht in jede Szene hinein. Die Bilder sind ausgebleicht und werden nur punktuell mit Farbtupfern versehen. Brillengläser vor den Kameralinsen verzerren den Blick auf die Außenwelt. Aller Realismus ist aus den Bildern verbannt und jede Einstellung fühlt sich dem trostlosen Seelenzustand des Protagonisten verpflichtet. Eine einfache Geschichte wird hier allzu poetisch verrätselt und das durchaus edle Ansinnen von ermüdend stilisiertem Schwermut durchkreuzt.

Martin Schwickert

NL/D 1999 R&B: Nora Hoppe K: Walther Vanden Ende D: Behrouz Vossoughi, Johan Leysen