DAS GANZE LEBEN LIEGT VOR DIR

Bizarre Rituale

Satire, Telenovela und Milieustudie: Ein ungewöhnlicher Film aus Italien über das wilde Leben der Telefonverkäufer

Der Saal tobt. Fünfzig junge Frauen singen aus voller Kehle den Firmen-Song, tanzen und werfen begeistert die Arme in die Luft. Von einer neuen, fantastischen Welt ist in dem Lied die Rede, von Angst und Zweifel, die es hinter sich zu lassen gilt, von Hilfsbereitschaft und Lebenskraft. In der Mitte des Raumes steht die Leiterin des Teams auf einem erhöhten Podest und ruft herunter: "Ihr seid etwas..." "Besonderes!" jubeln die Angestellten im Chor. Sekunden später sitzen sie bienenfleißig in ihren Plexiglaskabinen und preisen der Kundschaft am Telefon die Vorteile eines überteuerten Multifunktionsgerätes an, das schneiden, raspeln, mischen, entsaften und sogar Trinkwasser sterilisieren kann.

Marta (Isabella Ragonese) hat gerade erst im Call-Center von "Multiple Italia" angefangen. Beim morgendlichen Einsingen wirkt sie noch ein wenig steif, aber im Kundengespräch erweist sich die ehemalige Philosophiestudentin, die ihre Promotion cum laude abgeschlossen hat, als echtes Naturtalent.

Monatelang ist Marta von einem Verlag zum anderen getingelt und konnte keinen der Lektoren für die Veröffentlichung ihrer Doktorarbeit über die Beziehung zwischen Heidegger und Hannah Arendt gewinnen. Bewerbungen bei Zeitungen, Magazinen und der Schulbehörde blieben ohne Erfolg. Dann drückt ihr in der U-Bahn ein Mädchen einen Zettel mit Name und Telefonnummer in die Hand. Die Mutter sucht eine Babysitterin und bietet Marta nicht nur ein Zimmer in ihrer chaotischen Wohnung, sondern gleich auch noch einen zweiten Halbtagsjob für die Frühschicht in dem Call-Center an, in dem sie selbst arbeitet.

Die Tätigkeit als Telefonaquisieteurin wird für die gelernte Philosophin eine zunehmend surreale Erfahrung. Der Kontrast zwischen der menschlichen Wärme, die Marta in den Gesprächen mit der Kundschaft herzustellen vermag, und den knallharten Vermarktungsmethoden des internationalen Großunternehmens nimmt immer bizarrere Formen an. Auf den wöchentlichen Motivationsmeetings werden die Quotenköniginnen gefeiert und die Versager an den Pranger gestellt. Noch martialischer geht es im Nebenraum bei den Vertretern zu, die mit okkulten Männlichkeitsritualen auf die aggressiven Verkaufsstrategien eingeschworen werden.

Die eingeforderte Corporate Identity führt auch in den Chefetagen zu massiven Persönlichkeitsstörungen. Die machtvolle Teamleiterin entpuppt sich als neurotische Furie und der gottgleiche Chef als wehrloses Scheidungsopfer.

Eine wilde Mixtur aus messerscharfer Kapitalismuskritik, burlesker Verwicklungskomödie, präziser Milieustudie, schrillen Musical- und Telenovela-Elementen, philosophischem Subtext und unaufdringlicher Lebensweisheit rührt der italienische Regisseur Paolo Virzi hier an. Zusammengehalten wird das filmische Multi-Tasking von der sonnigen Leinwandpräsenz der fabelhaften Isabella Ragonese, die wie Alice im Wunderland durch die schöne neue Konzernwelt treibt, sich verführen lässt von Quotensucht und Prämienausschüttung, dann wieder distanziert das absurde Psychodrama beobachtet, ein Essay über Heidegger und die Gruppendynamik des Call-Centers schreibt und schließlich Trost in der einfachen Umarmung einer alten Dame findet.

Bei aller Systemkritik lässt Virzi nie die cineastische Gestaltungslust und das Interesse an den Figuren hinter das politische Anliegen zurücktreten. Das ganze Leben liegt vor dir ist eben kein Ken Loach-Film, sondern eine quirlige und tiefsinnige Persiflage, die ganz ohne agitatorische Anstrengungen auskommt.

Martin Schwickert

Tutta la vita avanti Italien 2009 R: Paolo Virzi B: Paolo Virzi, Francesco Bruni, nach einem Buch von Michela Murgia K: Nicola Pecorini D: Isabella Ragonese, Micaela Ramazzotti, Sabrina Ferilli