DER JUNGE IM GESTREIFTEN PYJAMA

Kinderblick

Was im Buch gelang, geht im Kino schief: Der vermeintlich naive Blick auf Nazi-Verbrechen

Das Fenster im Kinderzimmer des neuen Hauses ist hoch angebracht. Bruno muss auf eine Kiste steigen, um hinaussehen zu können. Der Garten hinter dem Haus ist von einer Mauer und hohen Bäumen umgeben. Nur schemenhaft kann Bruno zwischen den Baumwipfeln in der Ferne die Gebäude erkennen, die für ihn wie ein Bauernhof aussehen, und die Menschen, die in gestreiften Pyjamas herumlaufen. Das ist seltsam, findet Bruno, das muss näher erforscht werden, auch wenn die Eltern es streng verboten haben.

Aus Berlin ist die Familie hier in diese gottverlassene Gegend gezogen. Der Vater, der eine schmucke schwarze Uniform mit Totenköpfen auf dem Revers trägt, ist befördert worden, und seine Arbeit, so wird Sohn und Tochter erklärt, sei von großer Wichtigkeit für die Zukunft des deutschen Vaterlandes.

Dass Papa ein Konzentrationslager leitet, wird den Kindern verschwiegen. Aber wie sollte man einem achtjährigen Jungen die unvorstellbaren Grauen, die der Vater zu verantworten hat, auch erklären?

John Boynes Roman Der Junge im gestreiften Pyjama erzählt vom Holocaust aus der Perspektive kindlicher Unschuld. Vom ersten bis zum letzten Buchstaben schreibt Boyne aus der subjektiven Sicht des achtjährigen Jungen, der versucht zu verstehen, was dort drüben im Lager vor sich geht und sich mit dem jüdischen Jungen Schmuel auf der anderen Seite des Zaunes anfreundet. Die radikale Subjektivität des Romans, die ausschnitthafte Wahrnehmung, die kindlichen Fehlinterpretationen sind entscheidend für grundlegend veränderte Sichtweise des Buches auf den Holocaust.

In einem Film lässt sich so etwas nur begrenzt umsetzen, weil die Kamera immer auf die Außensicht angewiesen ist, sie nicht hineinkriechen kann in einen Menschen und die gezeigten Bilder einem erwachsenen Betrachter mehr sagen als einem achtjährigen Kind.

Mark Herman versucht in seiner Kinoversion redlich die kindliche Perspektive beizubehalten. Aber in dem Moment, in dem der erste Pfosten des Lagerzaunes ins Bild kommt, eine schwarze Rauchwolke am Himmel emporsteigt, verliert der Film seinen unschuldigen Blick. Dafür sind die Symbole des Holocaust zu fest im optischen Gedächtnis codiert. Auch wenn der Film gegenüber dem Leseerlebnis deutlich abfällt, funktioniert die Geschichte auf der Leinwand. Natürlich geht es auch hier nicht um eine realistische Darstellung des Holocaust. Aber das Bild der beiden Jungen, die sich gegenseitig ihre grundverschiedenen Welten dies- und jenseits des Zaunes erklären wollen, wirkt auch im Film sehr stark.

Nur die Musik ist - ähnlich wie in Der Vorleser - zu aufdringlich geraten, und dass Herman die brillant-lakonische Wucht, die der Roman mit seiner Schlusswendung entwickelt, durch eine vollkommen überflüssige Dramatisierung ins Hollywood-Format presst, ist und bleibt einfach unverzeihlich.

Martin Schwickert

The Boy in the Striped Pyjamas R&B: Mark Herman nach dem Roman von John Boyne K: Benoit Delhomme D: Asa Butterfield, David Thewlis, Vera Farmiga