ON THE EDGE

Sanft verrückt

Jules und Jim in der Psychiatrie

Irland ist bekannt für seine malerische Küste. Im Kino gruppiert man gerne alte kauzige Männer vor die sorglos irischen Landschaften. In John Carneys On the Edge hingegen dient die malerische Steilklippe als Sprungschanze für einen Selbstmordversuch. Mit einem geklauten Cabriolet stürzt sich Jonathan (Cillian Murphy) in den Abgrund und bricht sich dabei gerade einmal den kleinen Finger. Das Gericht stellt ihn vor die Wahl: Klapse oder Knast. Jonathan entscheidet sich für die Psychiatrie als vermeintlich bequemere Alternative.
So richtig verrückt ist Jonathan eigentlich nicht. Nur ein wenig aus der Bahn geraten, als sein Vater sich schlussendlich doch noch zu Tode gesoffen hat. Vielleicht kommt daher der trockene Zynismus, mit dem der 18jährige dem Leben und den Menschen begegnet, und seine jugendliche Neigung, den Freitod ins Romantische zu verklären.
In der Anstalt trifft Jonathan auf Leute, die dem Tod sehr viel näher stehen. Die therapeutischen Gesprächsrunden bei Dr. Figure (Stephen Rea), über die sich der Neuankömmling lustig macht, sind für Rachel (Tricia Vessey) und Toby (Jonathan Jackson) überlebenswichtig. Vorsichtig verliebt sich Jonathan in selbstzerstörerische Rachel und freundet sich auch mit dem schüchternen Toby an. Zusammen ergeben die drei ein fragiles Beziehungsdreieck, das fast schon wie eine Anstaltsversion von Jules und Jim daherkommt.
Kein hysterisches Klapsendrama hat John Carney im Sinn, sondern eine melancholische Coming-of-Age-Geschichte, die ihr zärtliches Verhältnis zu den Figuren nie zugunsten didaktischer Effekte aufgibt. Unter den verschärften Bedingungen der Psychiatrie werden die Probleme des Erwachsenwerdens offen und unverklärt formuliert. Aus der Fragilität der Charaktere bezieht die Liebesgeschichte ihre ganz eigenen Spannungsmomente. Leichtfüßig bewegt sich der Film durch den Anstaltsalltag und kämmt all die Einer-flog-übers-Kuckucksnest -Klischees gegen den Strich. On the Edge gelingt das Kunststück, von seelischen Abgründen zu erzählen, ohne sich selbst zwanghaft in sie hineinzustürzen. Drastischer Humor und Selbstironie vermischen sich hier mit einer hohen Sensibilität gegenüber dem psychischen Dilemma der Figuren.

Martin Schwickert

Irland/USA 2001 R&B: John Carney B: Daniel James K: Eric Edwards D: Cillian Murphy, Stephen Rea, Tricia Vessey