EIN RUSSISCHER SOMMER

Tolstois Kommune 1

Die letzten Tage eines Schriftstellers

Mitte November 1910 bezieht die versammelte Weltpresse vor einem kleinen Bahnwärterhäuschen im südrussischen Astapowo Position. Drinnen liegt der 82jährige Lew Nikolajewitsch Tolstoi (Christopher Plummer), der auf der Fahrt im offenen Zug an einer schwere Lungenentzündung erkrankt ist. Werke wie "Anna Karenina" und "Krieg und Frieden" haben dem russischen Autoren weltweiten Ruhm eingebracht.

Nicht nur der nahende Tod hat die Pressevertreter in die russische Einöde gelockt. Auch die Hoffnung auf einen ordentlichen Skandal. Man erwartet die Anreise von Tolstois Frau, und es ist keineswegs gewiss, dass Sofia (Helen Mirren) zum siechenden Gatten vorgelassen wird.

Nach fast fünfzig Jahren war die Ehe in die Brüche gegangen, als Tolstoi drohte, die Rechte an seinen Werken nicht der Familie, sondern dem russischen Volk zu vermachen.

In Ein russischer Sommer beschreibt Michael Hoffman - dem doku-fiktionalen Roman von Jay Parini folgend - Tolstois letztes Lebensjahr aus der Erzählperspektive des jungen Sekretärs Walentin Bulgakow (James McAvoy), der zum Gut Jasnaja Poljana reist, wo Tolstois Gefolgsleute eine Landkommune errichtet haben, in der mit kollektiven Besitz- und Arbeitsverhältnissen und freien Liebeskonzepten experimentiert wird.

Der Meister selbst lebt weiterhin im Gutshaus mit Sofia, einer überzeugten Aristokratin, die nichts von den anarchistischen Ideen ihres Ehegatten hält. Als Tolstois Vertrauter Wladimir Tschertkow (Paul Giamatti) anreist, um den Meister zur Änderung seines Testaments zu bewegen, bricht der offene Beziehungskrieg aus.

Die deutsch-russisch-britische Co-Produktion glänzt vor allem durch ihre hochkarätige Besetzung. Christopher Plummer vermittelt auch durch den dichten Bartwuchs hindurch Tolstois Grenzwanderungen zwischen vorsenilen Anwandlungen und visionärem Idealismus.

Aber natürlich hat Helen Mirren als rabiate Ehegattin die weitaus interessantere Rolle.

Von bissigem Sarkasmus über zarte Verführungskunst bis zu ebenso leidenschaftlichen wie berechnenden Gefühlsausbrüchen reicht ihr Arsenal in der Ehekriegsführung.

Auch Paul Giamatti in der Rolle des Intriganten, James McAvoy als naiver Literaturverehrer und Kerry Condon als dessen freigeistige Geliebte müssen sich nicht hinter den britischen Edelmimen verstecken.

Ohne die dramatischen, persönlichen Konflikte der Geschichte aus den Augen zu verlieren, wirft Hoffmans biografische Ausschnittvergrößerung auch einen Blick auf die gesellschaftlichen Umbrüche im vorrevolutionären Russland, wo damals schon Ideen und Visionen schwelten, die in westlichen Ländern erst in den späten sechziger Jahren ausprobiert wurden.

Martin Schwickert

The Last Station D/GB/RUSS 2009 R&B: Michael Hoffman K: Sebastian Edschmid D: Helen Mirren, Christopher Plummer, James McAvoy