ELEMENTARTEILCHEN

Zerstörte Seelen
Aus Houellebecqs Bestseller macht Oskar Roehler ein echtes, tiefes Melodram

Vielleicht haben sich hier wirklich zwei Seelenverwandte getroffen. Der französische Romancier Michel Houellebecq, der in Elementarteilchen mit analytischer Kälte den Zerfall der modernen Ich-Gesellschaft beschreibt. Und Oskar Roehler, der in seinen Filmen von Silvester Countdown über Die Unberührbare bis hin zu Agnes und seine Brüder ein immer schärferes Auge für die seelischen Selbstzerfleischungsprozesse seiner Figuren entwickelt hat.
Obwohl er hier zum ersten Mal einen Roman adaptiert hat, ist aus Elementarteilchen doch ein echter Roehler-Film geworden. Der sexsüchtige Bruno (Moritz Bleibtreu) etwa wirkt wie die konsequente Weiterentwicklung der Figur, die Bleibtreu in Agnes und seine Brüder gespielt hat. Er und sein Halbbruder Michael (Christian Ulmen) sind - genau wie Roehler selbst - unglückliche Kinder der Hippie-Eltern-Generation, die sich die persönliche Selbstverwirklichung mit der Vernachlässigung der eigenen Kinder erkauft hat. Weil es die Mutter (Nina Hoss) nach Poona zog, sind Michael und Bruno getrennt bei verschiedenen Großeltern aufgewachsen.
Nur grob skizziert Roehler in knappen Rückblenden die verquere Sozialisation der Jungen. Während Bruno im Internat von seinen Mitschülern regelmäßig brutal misshandelt wird, wächst Michael eher behütet auf und schottet sich durch sein naturwissenschaftliches Forschungseifer gegen sein menschliche Umwelt ab. Als Molekularbiologe und Genforscher arbeitet er heute daran, die menschliche Reproduktion unabhängig von den Unwägbarkeiten des Sexualtriebes zu gestalten.
Der Literaturdozent Bruno hingegen scheint sich für nichts anderes als Sex zu interessieren. Erfolglos steigt er seinen jungen Studentinnen nach und ejakuliert auch schon einmal auf deren Seminararbeiten. Nach einem ausgedehnten Psychiatrieaufenthalt lernt er in einem esoterischen Nudisten-Camp Christiane (Martina Gedeck) kennen, mit der er in Swinger-Clubs gemeinsam seine sexuellen Fantasien ausleben kann. Michael trifft nach zwanzig Jahren wieder auf seine Freundin aus Kindertagen Annabelle (Franka Potente), und beide stellen zögernd fest, dass sie in all den Jahren immer noch der unschuldigen Spielplatzliebe nachtrauern.
Was in der ersten Hälfte als nicht ganz ironiefreie Psychostudie eines ungleichen Bruderpaares angelegt ist, wird mit dem Auftauchen der beiden Frauenfiguren zusehends in die Fahrwasser eines modernen Melodrams gelenkt. Das Herz, das unter der eiskalten und oft auch zynischen Prosa Houellebecqs schlägt, wird in Roehlers filmischer Adaption ohne falsche Angst vor Sentimentalisierungen freigelegt. Dabei werden die pornografischen Exzesse auf ein notwendiges Minimum reduziert und die Figuren in ein offneres und versöhnlicheres Licht manövriert.
Aus der Liebes- und Glückssuche seiner zerstörten Seelen entwickelt der Film - mit einem bis in die kleinste Nebenrolle hochkarätigen Ensemble -eine emotionale Wucht, wie man es im deutschen Kino lange nicht mehr gesehen hat. Roehler hat keine Angst vor großen filmischen Gesten, vor langgezogenen Nahaufnahmen, vor schmerzhaften Dialogen. Und plötzlich sehen die oftmals enervierenden Gefühlsquälereien, die Roehler in Gierig, Silvester Countdown oder Der alte Affe Angst durchexerziert hat, wie ein notwendiger Reifungsprozess aus, wie die Vorarbeiten zu einer emotionalen Klarheit, die er nun endlich erreicht hat.

Martin Schwickert
R&B: Oskar Roehler K: Carl-Friedrich Koschnik D: Moritz Bleibtreu, Christian Ulmen, Martina Gedeck, Franka Potente



Das Interview zum Film