L'ENFANT - DAS KIND

In Ruinen

Eine Sozialstudie der härteren Art

Die Gebrüder Jean-Pierre and Luc Dardenne haben bisher all ihre Spielfilme in der belgischen Kleinstadt Seraing gedreht. Zehn Kilometer von Lüttich entfernt ist Seraing eine dieser Städte, deren Sozialgefüge mit dem Untergang der Stahlindustrie seit den 80ern kontinuierlich verfällt. Bereits in den 70ern haben die Dardennes hier ihre ersten Reportagen über die Verlierer der Industriegesellschaft gedreht. In L'Enfant sieht man die Industrieruinen von Seraing nur am Rande. Die Stadt wirkt wie ein Niemandsland mit unwirtlichen Autobahnlandschaften und Wasserkanälen, auf die sich nur noch selten ein Schiff verirrt. Hier, unter einem umgekippten Container, hat Bruno sein Quartier bezogen. Bruno (Jérémie Régnier) ist 20 und ein urbaner Überlebenskünstler. "Arbeiten ist etwas für Arschlöcher", sagt er. Und: "Geld finde ich immer, das muss ich nicht aufheben." Kaum hat er die Videokamera und den Schmuck aus seinem letzten Diebstahl vertickt, hat er das Geld schon wieder ausgegeben.

Als Brunos Freundin Sonia (Déborah François) mit dem Baby von der Entbindungsstation kommt, hat er nicht nur deren Sozialwohnung für eine Woche untervermietet, sondern verkauft wenig später auch das Baby an einen Kinderhändlerring. 5000 Euro bekommt er für den Säugling. "Wir können ja noch eins machen", erklärt er Sonia lapidar, die vor dem leeren Kinderwagen zusammenbricht und sich ihm trennt.

Dass Bruno das Kind wieder zurückbringt, ist eher der Angst vor einer Anzeige, als seinem moralischen Gewissen geschuldet. Aber die Kamera bleibt bei ihm, verfolgt ihn durch den kleinkriminellen Alltag und entdeckt schließlich Anzeichen für eine Veränderung, für ein Verantwortungsgefühl, das sich langsam herauszubilden beginnt.

In L'Enfant verfeinern die Gebrüder Dardenne ihren sozialen Realismus zur Meisterschaft. Mit unnachgiebiger Härte blicken sie auf ihre Figuren, zeigen ihre moralischen Verwerfungen und entwickeln durch die geduldige Beobachtung eine umso tiefer Empathie für die Charaktere. Nur wer lange genug drauf schaut, kann erahnen, was in den Menschen vorgeht.

Martin Schwickert

F 2005 R&B: Jean-Pierre & Luc Dardenne K: Alain Marcoen D: Jérémie Régnier, Déborah François