ERBSEN AUF HALB 6


Wunderland

Die Bilderwelt der Blinden

Es ist ein Wagnis einen Film über das Blindsein zu machen. Das Kino lebt von der Kraft der Bilder und ist eigentlich der schlechteste Ort, um die Erfahrung des Nicht-Sehen-Könnens zu vermitteln. Lars Büchel (Jetzt oder nie) versucht es in seinem märchenhaften Roadmovie trotzdem und er geht in die optische Offensive. Alles was seine Hauptfiguren nicht sehen können, zeigt der Film um so intensiver: das knallgelbe Rapsfeld, den strahlend blauen Himmel und die leergeräumten Steppenlandschaften im Baltikum.
Alles beginnt mit einem zweifachen Sprung ins Wasser. Lilly (Fritzi Haberlandt), die seit ihrer Geburt blind ist, tastet sich langsam vor zum Drei-Meter-Brett und springt kopfüber ins Schwimmbecken, während der Jakob (Hilmir Snaer Gudnason) mit seinem Auto von der Straße abkommt und in einen See stürzt. Nach dem Unfall ist Jakob blind. Seinen Beruf kann der angesehene Theaterregisseur an den Nagel hängen. Jakob versinkt in Selbstmitleid, vergrault alle seine Freunde und weist auch die Hilfe von Lilly, der Blindenlehrerin, zurück. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch wird er in Lillys Obhut aus der Psychiatrie entlassen, flüchtet zunächst vor ihr und dann mit ihr Richtung Nordrussland, wo seine Mutter wohnt, die nur noch wenige Wochen zu leben hat.
Büchel entwirft eine hindernisreiche Liebesgeschichte, die vor großen dramatischen Gesten nicht zurückschreckt. Wem es gelingt, sich zurückzulehnen und die Realitätsansprüche herunterzufahren, bekommt bildgewaltiges, hochemotionales Kino serviert, das die Grenze zum Kitsch oft berührt, aber selten überschreitet. Ohne Mitleidspathos nähert sich Büchel der Lebenswelt des blinden Paares an. Um sie herum entwerfen er und seine Kamerafrau Judith Kaufmann eine eigene märchenhafte Welt, wie man sie zuletzt vielleicht in Veit Helmers Tuvalu gesehen hat. Je weiter sich die Liebenden aus ihrer gewohnten Umgebung entfernen, desto surrealer werden die Bildkompositionen, die einen immer wieder hineinziehen in eine Welt, die mit Bildern eigentlich nicht zu beschreiben ist.

Martin Schwickert
D 2003 R: Lars Büchel B: Ruth Toma K: Judith Kaufmann D: Fritzi Haberlandt, Hilmir Snaer Gudnason, Harald Schrott