Feuchtgebiete

Draufsicht

Charlotte Roches Bestseller hat eigenständige Kinofassung erhalten

Für die einen waren Charlotte Roches intime Bekenntnisse einer jungen Krankenhauspatientin, die sich mit gynäkologischem Detailreichtum über Hämorrhoiden, Unterleibshygiene, vaginales und anales Lustempfinden auslässt, nur pornografische Schmutz- und Schundliteratur. Andere entdeckten in den freimütigen Ausführungen eine humorvolle Provokation und die Enttabuisierung weiblicher Sexualität. Immerhin 2,5 Millionen Exemplare des Romans Feuchtgebiete gingen über die Ladentheken des deutschen Buchhandels. Bei solchen Verkaufszahlen wird natürlich auch die Filmbranche wach. Produzent Peter Rommel hat fast alle Filme Andreas Dresens von Halbe Treppe bis Halt auf freier Strecke realisiert. Regisseur David Wnendt legte mit seinem mehrfach ausgezeichneten Debütfilm Die Kriegerin eine beeindruckende Studie des rechtsradikalen Milieus in der deutschen Provinz vor.

Schon in der ersten Einstellung bekennt sich der Film zum spielerischen Umgang mit der Erwartungshaltung. In Großaufnahme ist ein Stück nackter Haut zu sehen, durch das mittig eine Furche geht. Es handelt sich jedoch nicht, wie kenntnisreiche Leser des Buches vermuten, um die Poritze der Protagonistin, sondern um deren Ober- und Unterschenkel, die auf dem Skateboard kniend zusammentreffen.

Carla Juri versetzt diese Helen, die vom Krankenhausbett aus über ihre sexuelle Fantasie und Praxis sinniert, in einen fein ausbalancierten Schwebezustand. Hinter all den selbstbewussten Bekenntnissen zur erotischen Wirkung von Avocadokernen, Analsex und selbstgebastelten Tampons wird immer auch die Verletzlichkeit der Figur sichtbar.

Wnendts filmische Draufsicht befreit sich von dem oftmals enervierenden Narzissmus der Vorlage und entwickelt eine aufrichtige und vollkommen unspekulative Zuneigung für die eigensinnige Protagonistin, der sogar eine waschechte Katharsis und ein bescheidenes Happy End zugestanden wird. Der Film findet einen souveränen filmischen Umgang mit dem Bestsellerstoff und wächst über das literarische Original hinaus, ohne dessen Geist zu verleugnen.

Martin Schwickert

D 2013 R: David Wnendt B: Claus Falkenberg, David Wnendt nach dem Roman von Charlotte Roche K: Jakub Bejnarowicz D: Carla Juri, Christoph Letkowski, Meret Becker