Finsterworld

Faserland

Ein deutscher Film über deutsche Kälte

Die Sonne scheint ohne Unterlass auf die Menschen in Frauke Finsterwalders Finsterworld: Auf den mobilen Fußpfleger Claude, der auf dem Weg zu seiner Lieblingsklientin im Altersheim ist, auf den Polizisten Tom, der im Kofferraum ein riesiges Stofftierkostüm mit sich führt, auf die Schüler des Geschichts-Leistungskurses, die auf dem Weg zur KZ-Gedenkstätte sind, auf das versnobte Ehepaar, das im vollklimatisierten Allradgefährt Richtung Paris braust.

Aber unter dem wolkenlosen Himmel und vor den hellen, aufgeräumten Landschaften braut sich etwas zusammen in den Seelen der Menschen, die dieses befremdlich gut aussehende Deutschland bevölkern. Abweichungen und Abgründe tun sich auf. Die Hornhaut, die Claude vom Fuß der alten Dame abschabt, wird in den Gebäckteig gemischt, das Eisbärenkostüm zur Kuschelparty übergestreift und eine Mitschülerin in den Verbrennungsofen des KZ-Krematoriums geschubst. Die Figuren und Ereignisse verbinden sich - nicht zu einer folgerichtigen Handlungskette, sondern zu einem Schicksalsgewebe, das dem Lebensgefühl in diesem schönen, herzlosen Land auf den Grund gehen will.

Mit einem kaleidoskopartigen Blick versuchen sich Finsterwalder und ihr Drehbuchautor Christian Kracht, der im Hauptberuf für Bestsellerromane wie Faserland und Imperium verantwortlich zeichnet, an einer seelischen Zustandsbeschreibung Deutschlands. Dabei geht es ihnen nicht um aktuelle politische Verweise oder die realistische Abbildung gesellschaftlicher Zustände, sondern um das, was in den Herzen der Menschen vor sich geht.

Tief dort drin finden sie eine grausame Kälte, die nur punktuell durch die funktionale Benutzeroberfläche hindurch bricht. Und Sehnsüchte. Nach einer Nähe, die sich in der Liebesbeziehung nicht herstellen will und deshalb in Ersatzritualen auf Furry-Partys oder bei der medizinischen Fußpflege gesucht wird. Nach einer Berührung, die im Guten wie im Schlechten alles schlagartig verändern kann.

Es ist die nüchterne und gleichzeitig einfühlsame Haltung zu seinen Figuren, die diesen eigensinnigen Film auszeichnet, der mit einem ausnahmslos hervorragenden, präzise agierenden Ensemble auftrumpfen kann. Sollte irgendwann einmal ein Nachfolger für Michael Haneke gesucht werden, gehört Frauke Finsterwalder ganz oben auf die Warteliste.

Martin Schwickert

D 2013 R: Frauke Finsterwalder B: Frauke Finsterwalder, Christian Kracht K: Markus Förderer D: Michael Maertens, Ronald Zehrfeld, Corinna Harfouch