VOM FLIEGEN UND ANDEREN TRÄUMEN


Die erste letzte Liebe

Helema Bonham-Carter sucht vorm Sterben noch einen Mann

Ein kriselnder Künstler trifft auf eine an einem Nervenleiden erkrankte junge Frau, die dem nahen Tod entgegensieht - da hört man schon beim Durchlesen der Inhaltsangabe, wie das Sentiment von der Leinwand tropft. Aber nicht abschrecken lassen, heißt die Devise. Auch nicht von der deutschen Verleihlyrik, die hier etwas ziellos mit dem Titel Vom Fliegen und anderen Träumen bedeutungsschwängert. Schließlich ist Regisseur Paul Greengrass Brite, und die sind quasi von Geburt an professionelle Kitschvermeider. Als Maler und als Geliebter ist Richard Hopkins (Kenneth Branagh) in eine schwere Schaffenskrise geraten. Grund genug, sich aus dem Leinwandmaterial der mißlungenen Werke ein paar Flügel zu basteln und effektvoll von einem Londoner Hausdach zu stürzen. Der Ikarusflug endet im Knast, der Richter brummt dem Erreger öffentlichen Ärgernisses 120 Stunden Sozialarbeit auf. Als erste Klientin bekommt Richard die ALS-Patientin Jane (Helena Bonham Carter) zugewiesen. Die Krankheit, die das zentrale Nervensystem in zunehmendem Maße angreift, zwingt Jane schon seit früher Jugend in den Rollstuhl. In wenigen Monaten wird sie nicht mehr sprechen können und die letzte Etappe ihrer Lebenserwartung erreicht haben.
Als krisengeplagter Künstler fühlt sich Richard von diesem psychosozialen Härtefall zunächst völlig überfordert. Aber Jane findet Gefallen gerade an den nicht therapeutischen Eigenschaften ihres versponnenen Betreuers, der in seiner Freizeit das Flugzeug noch einmal zu erfinden sucht. Schließlich bittet sie Richard in einer prekären Angelegenheit um Hilfe: Vor dem nahen Tod möchte sie ihre "Jungfräulichkeit" verlieren. Dabei soll Richard nicht selbst Hand anlegen, sondern einen professionellen Gigolo engagieren, der allerdings mindestens so gut aussehen soll wie Richard Gere. So begeben sich die beiden auf die Suche nach dem geeigneten Mann für gewisse Stunden...
Man kann Regisseur Paul Greengrass und dem Drehbuchdebütant Richard Hawkins gar nicht genug danken, daß sie der Versuchung widerstanden haben, Richard und Jane zu einen funktionierenden Liebespaar zusammenzuschweißen. Gerade der platonische Charakter ihrer Beziehung hält den Spannungsbogen dieser sensiblen Tragikomödie aufrecht. Kaum auszudenken, was Hollywood aus dieser Geschichte gemacht hätte. Die unheilbare Krankheit ist hier nicht nur Mittel zum Zweck, um das Rührseeligkeitspotential der Geschichte zu steigern. Auf äußerst offene und oft auch komische Weise läßt sich der Film auf die Auseinandersetzung mit Behinderung, Krankheit und Tod ein. Trotz rollenbedingt eingeschränkter Bewegungsfreiheit schafft es Helena Bonham Carter ihrer Figur einen sarkastisch-schillernden Charme zu verleihen, der einem hundertmal mehr zu Herzen geht als aufdringlich vergossene Leinwandtränen.

Martin Schwickert