DER FREIE WILLE

Gepanzertes Wesen

Bilder eines Vergewaltigers

Dieser Film beginnt mit einer Vergewaltigungsszene. Selten hat man im Kino eine solch zutiefst verstörende und schmerzhafte Szene gesehen, obwohl Regisseur Glasner mit seiner fast nüchternen Betrachtungsweise sich allen voyeuristischen Effekten verweigert. Glasner will einen Vergewaltiger als Menschen und nicht als Monster zeigen. Er bringt uns die Figur des Sexualstraftäters Theo Stoer nahe, ohne seine Tat erklären oder entschuldigen zu wollen.
Die Anfangssequenz endet mit der Festnahme des Triebtäters, den Jürgen Vogel mit beängstigender Genauigkeit spielt. Nach neun Jahren kommt Theo aus dem Maßregelvollzug und soll in einer betreuten Wohngemeinschaft wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden. Die folgenden Kinostunden erzählen von dem schwierigen Versuch, einen Platz im Leben zu finden und sich der eigenen gewalttätigen Persönlichkeit zu stellen.
Ein Vorbild möchte er sein, sagt er beim Vorstellungsgespräch in der Druckerei, und man sieht, dass Theo den eigenen Ambitionen nicht richtig traut. Er lernt Nettie (Sabine Timoteo) kennen, die Tochter des Chefs. "Ich mag keine Männer", sagt sie beim ersten Treffen in einer Eisdiele. "Das trifft sich gut", antwortet Theo, "ich mag Frauen auch nicht so besonders".
Nettie, die an der engen Beziehung zu ihrem Vater fast erstickt wäre, bleibt auf Distanz, was Theos Angst vor Nähe entgegen kommt. Nach langsamer Annäherung gönnt Matthias Glasner den beiden eine kurze Phase des Glücks.
Nach dem schockierenden Anfang kehrt eine beinahe meditative Ruhe ein. Der Film beobachtet Theo eher als dass er die Handlung vorantreibt. Ob Theo rückfällig wird: diese Frage sitzt dem Publikum genauso im Nacken wie dem Protagonisten, der mit Klimmzügen und Kampfsport gegen den eigenen Körper in den Krieg zieht.
Jürgen Vogel spielt diesen Theo Stoer als gepanzertes Wesen, dessen Versuche sich anderen zu öffnen immer wieder von der eigenen Triebstruktur durchkreuzt werden. Wenn er im Bett onaniert, sieht es aus, als wolle er sich den Penis herausreißen. Theo Stoer kämpft gegen sich selbst aus Angst vor sich selbst.
Der freie Wille lässt das Publikum in die Seele des Vergewaltigers schauen, ohne es zu dessen Sozialarbeiter, Komplizen oder Voyeur machen zu wollen. Auch wenn man über das Schlussbild, in dem sich aufrichtige Emotionalität und filmisches Pathos vermischen, streiten kann: Mit seinem Mut zur bitteren Erkenntnis setzt Glasners Film eine tiefere Wirkung frei als es jedes politisch-korrekte Filmpamphlet vermocht hätte.

Martin Schwickert

D 06 R: Matthias Glasner B: Matthias Glasner, Judith Angerbauer, Jürgen Vogel K: Matthias Glasner D: Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, Manfred Zapatka


Das Interview zum Film