GHETTO

Fragen der Schuld

Ein Film, der viel lieber das Theaterstück wäre, das er einmal war

Darf man sich mit so einem Film anlegen, der voller guter Absichten steckt? Darf man ein Drehbuch für grauenvollen Murks halten, das von Joshua Sobol verfasst wurde, jenem Autor, der in den 80ern "Ghetto" fürs Theater schrieb? Wie kann man Fragen der Moral mit denen filmischer Umsetzung und Ästhetik mischen, wenn es um eine Geschichte ausw dem Holocaust "nach wahren Begebenheiten"geht?
Es gab in den 40ern ein Ghetto in Vilna, und es gab dort ein Theater. Wie auch anderswo, hatten die Nazis in Vilna eine perverse Freude daran, Kunst und Tod miteinander zu verbinden. Der Gang vors Erschießungskommando wurde damals an vielen Orten Europas von lagereigenen Orchestern begleitet. Es ist bis heute nicht ganz eindeutig, ob derlei Vorkommnisse nur gegen die Nazis oder auch gegen die Kunst sprechen.
In den 80er Jahren hatte der israelische Autor Joshua Sobol ein ziemlich böses Stück über dieses Vilnauer Ghetto-Theater geschrieben. Es geht darin um moralische Fragen. Darf man Kunst für die Henker aufführen, wenn dadurch ein paar Leben gerettet oder mindestens verlängert werden können? Darf man überhaupt mit Verbrechern kollaborieren, wenn dadurch nur ein ausbalancierter Status Quo entsteht, der jeden Widerstand, und sei er noch so sinnlos, vereitelt, weil er befriedend wirkt?
Sobols Stück war eine kolportagehafte Mischung aus Szenen, Musik und Theatereffekten. Es veränderte die Art, wie Nazis inszeniert wurden. Ohne Ghetto wären Schindlers Liste, Der Pianist und Der Zug des Lebens nicht möglich gewesen. Ghetto verlagerte allerdings auch die Schuldfrage, weg von den Mördern, hin zu den Opfern.
Jetzt gibt es eine Ghetto-Verfilmung durch den litauischen Dokumentar-Filmer Audrius Juzenas (Jahrgang 63), der bekennt, er habe erst 1999 vom Ghetto-Theater erfahren. Es gibt deutsche Fördergelder und ein litauisches "Holocaust Gedenkprogramm", womit der Film Ghetto im Jahr 2000 in Bewegung gesetzt wird (und trotzdem erst letztes Jahr fertiggestellt wurde). Es gibt Joshua Sobol, der seit den 90ern wenig beachtet wurde und das Drehbuch zum Film schreiben durfte.
Und jetzt gibt es diesen Film. Wir sehen einen jungen Lagerkommandanten zwischen Saxophonspiel und Massaker. Wir sehen eine Orgie, irgendwo zwischen Nachtportier und Peter Zadeck. Während in der einen Ecke gevögelt wird, werden nebenan jüdische Leben verhandelt: 200 Menschen weniger zur Deportation, wenn der Kommandant dafür der Lagerschönheit an die nackten Brüste fassen darf (mit sowas konnte man in den 80ern in Bochum und London das Publikum erschrecken; heute würde jede Provinzbühne Anne Frank von Heinrich Himmler vögeln lassen, wenn's noch jemanden schockieren würde).
Ghetto erzählt nicht, er reiht Szenen aneinander: Die Hinrichtung, der Konflikt, die Orgie, der Untergang, alles wird brav abgearbeitet. Es wurde im Vilnauer Ghetto gedreht, aber jeder Realismus ist dem Film fremd. Ghetto enthält schöne und traurige Lieder, aber leider versteht man kein Wort (der Film ist sehr schlecht synchronisiert worden). Ghetto handelt vom Tod, will ihn aber partout nicht zeigen. Er behauptet eine psychologische Befindlichkeit seiner Figuren, spielt sie aber nicht aus. Die Helden tragen ihre innere Ausstattung wie ein Plakat vor sich her: Ich bin hier der Berufs-Psychopath, aber fragen Sie bitte nicht, warum. Ghetto wäre viel lieber ein Theaterstück, aber das gibt es schon. So verweigert sich der Film aus Trotz allen filmischen Mitteln.
Heino Ferch als Chef der Ghettopolizei und Sebastian Hülk als Ghetto-Kommandant Kittel sind sehenswert. Im Presseheft des deutschen Filmverleihers, der der Text wohl aus dem Litauischen rückübersetzen ließ, steht : "Selbst Heino Ferch läßt Rührung aufkommen, er findet seinen richtigen Platz immer deutlicher in Filmen zur Vergangenheitsbewältigung." Der Film ist genau so.

Thomas Friedrich

D/Lit. 2005. R: Audrius Juzenas B: Joshua Sobol. K: Andreas Höfer. D: Sebastian Hülk, Heino Ferch, Erika Maroszan