GOMORRHA

Globale Verbrechen

Matteo Garrone Doku-Fiktion

Zwei Jungs so um die fünfzehn tollen wie verspielte Hunde durch das knöcheltiefe Wasser am Strand. Spritzen sich nass, johlen und jubeln. In der Hand hält jeder ein Maschinengewehr. Damit ballern sie ins Meer, fühlen sich wie Al Pacino und tragen Zitate aus Brian de Palmas Mafia-Epos Scarface vor. In ihrem pubertären Übermut wollen sie ein wenig Action in die verkrusteten Strukturen ihrer Umgebung bringen. Die Gegend, in der sie aufgewachsen sind, befindet sich in der Nähe von Neapel und ist fest in der Hand der Camorra.

Nur so aus Spaß haben Marco (Marco Macor) und Ciro (Ciro Petrone) die Gehilfen der Mafia beim Waffenverstecken ausspioniert und die Pistolen und MGs geklaut. Jetzt mit all der Waffengewalt in den eigenen Händen, träumen sie wie Pacino in "Scarface" davon, dem etablierten, organisierten Verbrechen die lange Nase zu zeigen. Träume wie diese sind die einzigen, die übrig geblieben sind, in einer Gegend, in der die kriminellen Strukturen der Mafia wie ein Krebsgeschwür in den gesellschaftlichen Organismus eingewachsen sind. Träume wie diese sind kurz und sie enden für Marco und Ciro in der Schaufel eines Baggers, in der ihre Leichen wie Unrat abtransportiert werden.

In Gomorrah blickt der italienische Regisseur Matteo Garrone, der hier den Bestseller von Roberto Saviano verfilmt hat, konsequent aus der Perspektive der einfachen Leute auf die Machenschaften der neapolitanischen Mafia. Nicht prachtvolle Paten mit siegelberingten Fingern bevölkern die fiktionale Dokumentation, sondern Menschen, die in die perspektivlosen, kriminellen Strukturen hineingeboren werden: Der dreizehnjährige Totó (Salvatore Abruzzese), dessen Familie, seit der Vater im Knast sitzt, auf die bescheidenen Unterhaltszahlungen der Camorra angewiesen ist. Der begnadete Schneider Pasquale (Salvatore Cantalupo), der im Auftrag von Mafia und Designer-Labels die Kleider der Haute Couture näht. Der Buchhalter Don Ciro (Gianfelice Imparato), der von Haus zu Haus zieht, um den Familien der Verstorbenen und Inhaftierten die spärlichen Mafiarenten auszuzahlen. Und der naive Hochschulabsolvent Roberto (Carmine Paternoster), der als Nachwuchsmanager in einer Firma anheuert, die Giftmüll auf höchst dubiose Weise entsorgt.

Mit diesen nebeneinander geführten, gleichberechtigten Hauptfiguren malt Matteo ein Panorama des organisierten Verbrechens auf, das durch seinen konsequenten, dokufiktionalen Blick der Verherrlichung der Mafia im Kino ein vorläufiges Ende setzt.

Der Giftmüll, den die Camorra illegal in Süditalien vergraben hat und der in vielen Regionen die Krebsraten in die Höhe schnellen lässt, wäre übereinandergehäuft fast doppelt so hoch wie der Mount Everest. Eine unvorstellbare Größe und das ganz konkrete Schicksal, das sich dahinter verbirgt, zeigt Matteo in einer kleinen, bedrückenden Szene. Während der verseuchte, krebskranke Vater im Bett röchelt, bittet die Familie den Giftmüllmanager der Camorra um Hilfe. Man wolle nichts geschenkt haben, beteuern die Verwandten, aber man habe unweit des Hauses einen Acker. Da sei noch Platz für ein paar Fässer...

Martin Schwickert

I 2008 R: Matteo Garrone B: Roberto Saviano K: Marco Onorato D: Salvatore Abruzzese, Gianfelice Imparato, Salvatore Cantalupo