Das große Heft

Allmähliche Verrohung

Agota Kristofs Roman in einer angemessen kühlen Verfilmung

Fein säuberlich sind die Teufelskäfer nebeneinander aufgereiht. Mehr als Hundert einzeln mit einer Nadel auf eine Pappe gespießt. Die beiden dreizehnjährigen Zwillingsbrüder (László und Ándrás Gyémánt) haben diese Insektensammlung nicht aus zoologischem Interesse angelegt. Das reihenweise Töten der Tiere begreifen sie als eine "Übung in Grausamkeit", mit der sie sich vertraut machen müssen, um in der Welt, in der sie leben, zurecht zu kommen.

Die Zwillinge sind Kinder des Krieges. Der Vater ist an der Front und die Mutter hat die beiden zur Großmutter aufs Land gebracht. Die Alte, die im Dorf nur "die Hexe" genannt wird, schimpft die Enkel als Hundesöhne und lässt sie hart arbeiten für einen Teller dünne Suppe und einen engen Schlafplatz in der Nische der verwahrlosten Stube.

Die unzertrennlichen Brüder richten sich ein in einer Welt, in der es ums nackte Überleben geht, jeder nur an seinen eigenen Vorteil denkt und Menschen von Menschenhand tagtäglich getötet werden. Gegenseitig härten sie ihre Körper mit Schlägen ab und können der prügelnden Großmutter schon bald die Stirn bieten. In einer "Übung zur Abhärtung der Seele" verbrennen sie die lange Zeit sehnsüchtig erwarteten Briefe der Mutter, an deren Liebe sie nicht erinnert werden möchten. Die selbst verordnete, systematische Verrohung lässt die beiden Jungen überleben, während um sie herum die Zerstörung der Zivilisation vorangetrieben wird.

Mit Das Große Heft verfilmt der ungarische Regisseur János Szász den mehrfach preisgekrönten Roman von Agota Kristof, der den Prozess menschlicher Verrohung an zwei unzertrennlichen Zwillingsbrüdern vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges exemplifiziert. Mit einer ebenso nüchternen wie poesievollen Erzählweise nähert sich der Film dem Stil des Romanes an, der mit kalter Präzision das grausame historische Umfeld abtastet, in dem die kindliche Unschuld keine Überlebenschancen hat.

In unspekulativen Bildern nimmt der Film die subjektive Perspektive der Zwillinge ein und zeigt eindringlich, ohne sich an Gewaltexzessen zu weiden, die enormen Zerstörungskräfte, die der Krieg in der Seele der Kinder entfaltet, genau wie die persönliche Integrität, die sie daraus entwickeln.

Martin Schwickert

A nagy füzet U 2013 R: Jánoz Szász B: Jánoz Szász, Andreas Szekér K: Christian Berger D: Lászl und Ándrás Gyémánt, Piroska Molnár, Ulrich Thomsen