»HUNGER - SEHNSUCHT NACH LIEBE«

Bauch über Kopf

Ein ernstes Thema, ein deutscher Film, keine Komödie, und trotzdem nicht ohne Witz

Das muß jetzt erstmal raus: Frau Vilsmaier hat ihr Jodeldiplom gemacht, Herr Wiesinger ist am besten ohne Text, Freß-Kotz-Sucht ist keine Geisel der gehobenen Stände, und die direkteste Wirkung des Film ist, daß den Banausen das störende Chips-Tüten-Rascheln im Angesicht der Nahrungsmittel-Verschwendung vergeht. Schon beim geschmackvoll fleischfarben auf grünem Gras aufstoßenden Titelschriftzug: Hunger - Sehnsucht nach Liebe.
So, jetzt ist der Kopf frei, und es stellt sich die interesselose Hellsichtigkeit ein, nach der Bulimie-Kranke gerüchteweise so gieren. Und vom ersten exzessiven Morgen-Jogging der weiblichen Hauptperson an die Bewunderung der Darstellerleistung Catherine Flemmings. Mal kühlstrenge Managerin, mal zerbrechlich-vorsichtig Verliebte, mal wütend in die Sucht-Anfälle ihrer Rolle ganz Eintauchende, mal völlig losgelöst zwischen Kindheits-Träumen, Versagens-Trauma und Hoffnungs-Toskana Schwebende ... soviel intensive Wandlungsfähigkeit haben die 300 Würstchen mit Mayonnaise, mit denen sie das Drehbuch nudelt, gar nicht verdient.
Sogar Kai Wiesinger entwickelt unerwartet feine Züge im Zusammenspiel mit ihr, und Dana Vávrovás Debüt-Regie erreicht Höhepunkte aus Ruhe und Raffinement, wenn sie den beiden einfach nur Zuzusehen scheint - und Bildausschnitt, Bewegung und Beleuchtung doch so kalkuliert einsetzt, daß daraus demnächst durchaus mal eine Handschrift werden könnte.
Das gilt fürs Drehbuch nicht, ein weiteres Debüt von Dana Vávrová, die das Schauspielen in vielen Filmen mit ihrem Erst-Entdecker, Ehe-Mann und Jetzt-Produzenten Josef Vilsmaier lernte. Aus dem nichtverfilmten Rollenangebot einer tragischen Bulimikerin bastelte sie sich über Jahre eine hoffnungsfroh ausgehende Romanze als Privatprojekt, stopfte Poesie und Pathos in jede Glaubwürdigkeitslücke, las sich quer durch die spärliche populäre Eßstörungsliteratur ... und war dann doch eher an dramatischen Story-Effekten als an exakter Symptomatik und Therapie interessiert. Zum Glück.
Sonst wäre die eh dünne Story an den Schwierigkeiten zerbrochen, zu erklären, wieso Bulimie etwas mit Leistungsdruck zu tun hat, aber anscheinend nie Männer befällt, die sich eo ipso für Leistungsträger halten - wieso Bulimie nur berufstätige Frauen befällt, aber in Ländern fast ohne Nur-Hausfrauen (den fünf neuen z.B.) nahezu unbekannt ist - wieso Bulimie ein Mode-Tabu-Thema ist, aber trotzdem alle mehr darüber wissen, als etwa über Fußpilz. Auch ein echtes Problem, auch unschön anzusehen, aber poetisch deutlich schlechter als Beziehungs-Drama aufzubereiten.
Hunger aber ist in seinen besten Momenten eben gar kein " Problem"-Film, sondern eine etwas ungewöhnliche und ein bißchen überfrachtete Liebesgeschichte. Der Junge ist ein bärtiger Graffiti-Künstler, Nebenerwerbs-Juwelier und zart schnoddriger Lover ("Ich bin glücklich" - "Tja, ist doch schön") - das Mädchen ist mit sich schwer im Unreinen, mag weder ihre Schönheit im Leben, noch ihre Fehler im Beruf zugeben (wunderbares, wenn auch vermutlich aus den falschen Gründen gewähltes Bild dafür: Philipp Starck-Design-Katalog-Stapel auf dem Dielen-Tisch) - und die Lösung trägt zwar dick auf, treibt einem aber doch ein Rührungstränchen auf die Backe:
Die Heldin ändert sichtlich, filmisch ihre Laufrichtung. Statt des selbstzerstörerischen Pendelns zwischen Workout und Würstchenbude biegt sie ab und lädt ihn zum Essen ein. Bei dem sie heldenhaft ihre geheime Leidenschaft live vor ihrem Beziehungspartner exekutiert (wir lernen: öffne dich!). Der Held (nun ja, es ist ein Frauenfilm, aber zum ersten mal ist Kai Wiesinger ein richtiges Manns-Vorbild, sozusagen Weichei hardboiled) rennt seinerseits angeekelt weg - und kommt zurück. Dann sprüht sie (nicht geheilt, aber erster guter Hoffnung - früher gab es mal ein Abtreibungs-Voice Over) unter einer Eisenbahn-Brücke (Symbol!) "ich liebe dich" auf die Wand. Aber er besteht darauf, daß sie es laut ausspricht. Und Dana Vávrová verkneift sich immerhin den letzten ästhetischen Kommentar, über das befreiende Geständnis, die Brücke und die Tonspur einen dröhnenden Zug fahren zu lassen. Oder vergaß sie das bloß? Wo doch sonst die Filmmusik zuweilen tief und starkfarbig in Hirn (Johann Sebastian Bach) und Magen (Cello, Saxophon und Dezibel) herumrumort?

WING