INSOMNIA - SCHLAFLOS

Herr der Augenringe

Al Pacino ist wieder mal ganz unten

Es gibt zwei Sorten von Menschen in Alaska", sagt die Hotelbesitzerin, "die, die hier geboren sind, und die, die vor etwas weglaufen". Auch Dormer (Al Pacino), ein Star-Cop aus dem L.A.P.D., ist auf der Flucht. Zu Hause in Los Angeles ermittelt die Aufsichtsbehörde gegen den erfahrenen Detektive und dessen Partner Hap (Martin Donavan). Um aus der Schusslinie zu kommen, sind die beiden Großstadtcops an den nördlichen Polarkreis geschickt worden. Im überschaubaren Alaskastädtchen Nightmute sollen sie bei der Aufklärung eines Mordfalles helfen. Die Leiche eines Mädchens wurde sauber gewaschen und manikürt auf einer Müllkippe gefunden. Als die Polizei einem Verdächtigen eine Falle stellt, kommt es zur Schießerei in nebliger Küstenlandschaft. Dormer erschießt versehentlich seinen Kollegen, der ihm am Abend zuvor eröffnet hatte, dass er vor der Aufsichtsbehörde auspacken wolle. Mit fingierten Beweistücken hängt Dormer dem flüchtigen Mädchenmörder (Robin Williams) den Todesschuss an. Als der jedoch direkten Kontakt aufnimmt und den schuldbeladenen Polizisten zu erpressen versucht, ist das der Beginn einer verhängnisvollen Allianz zwischen den moralischen Fronten.
Mit Insomnia ist Regisseur Christopher Nolan ein brillantes Remake des gleichnamigen norwegischen Thrillers von Erik Skjoldbjaerg aus dem Jahre 1998 gelungen. Nolan hat zuletzt mit seinem somnambulen Geniestreich Memento auf sich aufmerksam gemacht, und auch in Insomnia wird das helle Licht des Tages zur Alptraumzone der Hauptfigur. Die arktische Mitternachtssonne scheint ohne Unterlass und raubt dem ausgebrannten Cop nicht nur den Schlaf, sondern auch die Möglichkeit, sein Geheimnis in rettender Dunkelheit zu verstecken. Während Thrillerkollegen wie David Fincher das moralische Dilemma ihrer Figuren in düsteren Sittengemälden schildern, ist es in Insomnia die unnachgiebige Helligkeit, die den Helden in die Verzweiflung treibt.
Al Pacino ist eigentlich kein Mann schauspielerischen Understatements, aber hier fährt er die Triebwerke herunter und kommt derart überzeugend auf den Hund, dass man glaubt, in der endlosen Tiefe seiner Augenringe für immer versinken zu müssen. Selbst Robin Williams - gegen sein enervierendes Image als trauriger Clown besetzt - überzeugt als gewiefter Fiesling. In Memento war es der clever gebaute Plot, der mit der Optik verschmolzen ist. Hier ist es Pacinos schauspielerische Präzision, die zusammen mit dem stringenten visuellen Konzept eine enorme filmische Sogwirkung freisetzt.
Die Handlung von Insomnia hat man möglicherweise schon nach zwei Wochen vergessen. Aber die betörend lichtkalte Stimmung brennt sich für immer im filmischen Gedächtnis ein.

Martin Schwickert

USA 2002 R: Christopher Nolan B: Hillary Seitz nach dem gleichn. Film von Erik Skjoldbjaerg K: Wally Pfister D: Al Pacino, Robin Williams, Hilary Swank