»IVAN UND ABRAHAM«

Zerstörte Erinnerung

Jüdisches Leben in Polen - bevor die Deutschen kamen

Der Holocaust hat auf brutale Weise die Geschichte des Judentums in ein "davor" und ein "danach" unterteilt und den Blick auf jüdisches Leben im Europa der dreißiger Jahre versperrt. Der Horror, der folgte, war zu groß, um sich an das "davor" erinnern zu können. Die eingeschränkte Wahrnehmung spiegelt sich auch im Kino wider. In den Filmen, die sich mit dieser Zeit beschäftigen, dominiert das Bild großbürgerlicher jüdischer Kaufmannsfamilien, die trotz ihrer Assimilation Opfer der Verfolgung wurden. Bilder von ärmlichen, orthodoxen Juden mit langen Bärten und Schläfenlocken findet man kaum. Zu groß ist die Angst, mit den nationalsozialistischen Propaganda-Schablonen a la Jud Süß verglichen zu werden.
Die französische Regisseurin Yolande Zaubermann, Tochter jüdischer Emigranten, macht sich mit ihrem Spielfilmdebüt Ivan und Abraham auf die Suche nach dieser zerstörten Erinnerung. Sie erzählt die Geschichte zweier Jungen in einem ostpolnischen Dorf nahe der russischen Grenze Anfang der 30er Jahre. Polen, Juden, Russen und Sinti leben hier seit Jahrzehnten auf engstem Raum nebeneinander und haben vor allem eines gemeinsam: Armut. Das Gewirr an Markttagen, in dem sich die verschiedenen Sprachen zu einem Klang vermischen, täuscht. Die ethnischen Grenzen werden nicht überschritten, die eigenen Traditionen ebenso gepflegt, wie die Vorurteile. Nur Abraham (Roma Alexandrowitsch), der neunjährige Jude, und Ivan (Sascha Jakolew), sein wenig älterer russischer Freund, halten sich nicht an die ungeschriebenen Regeln.
Ivan und Abraham beschreibt die jüdischen Familiengemeinschaft als wärmender Ort, an dem Geborgenheit und Zärtlichkeit ebenso präsent sind wie talmudsche Strenge und Enge. Rachel (Maria Lipkina) soll nach dem Willen des Familienoberhauptes zwangverheiratet werden. Mit ihrem Geliebten Aaron (Wladimir Machkow), dem jungen Kommunisten, flieht sie aus dem Schtetl. Auch Ivan und Abraham türmen, als die Eltern sie voneinander trennen wollen. Die Flucht macht sie zu Überlebenden, denn als Ivan und Abraham zurückkehren, stehen sie vor ausgebrannten Häusern - ein antisemitisches Pogrom, ausgelöst durch den Bankrott eines russischen Großgrundbesitzers hat sie heimatlos gemacht.
In Schwarz-Weiß und im Cinemascope-Format läßt Yolande Zaubermann die Ästhetik des jiddischen Kinos der dreißiger Jahre wieder lebendig werden. Die Beschreibung des Lebens im Schtetl ist so stimmig und atmosphärisch dicht, daß man zwischenzeitlich fast vergißt, daß es sich hier um einen im Jahr 1993 produzierten Film handelt. Yolande Zaubermann (ihr zweiter Spielfilm Clubbed to Death war gerade in den Kinos) vermeidet jeden Anflug von folkloristischer Anatevka-Romantik genauso wie düstere Vorhersehungsmetaphorik. Ivan und Abraham will keine aufdringlichen politischen Botschaften unter die Leute bringen, sondern erzählt eine traurige, einfache Geschichte, schildert, ohne zu urteilen, läßt Gegensätze nebeneinander bestehen und nähert sich mit beeindruckender Sensibilität einer verlorengegangen Zeit an.

Martin Schwickert