»I WANT YOU«

Trübes England

Pubertät ist ein einsames Geschäft.

Honda (Luka Petrusic) ist ein Strich in südenglischer Küstenlandschaft. Der spindeldürre 14jährige Flüchtling aus einem der osteuropäischen Kriege spricht seit dem Tod seiner Mutter kein Wort mehr. Dafür hört er umso genauer hin. Nicht nur mit seinen großen abstehenden Ohren, auch mit technischem Gerät, Stethoskopen und Richtmikrofonen. Ein Audio-Voyeur und Sammler. Er belauscht seine Schwester Smokey (Labina Mitevska), dokumentiert jeden Beischlaf mit ständig wechselnden Liebhabern, und seit dem Zusammenstoß mit der schönen Helen (Rachel Weisz) verfolgt er auch sie mit dem Tonbandgerät. Pubertät ist ein verträumtes, einsames Geschäft.
Hondas Zimmer in der Baracke am Strand gleicht einem hochgerüsteten Tonstudio. Hier sampelt er die heimlichen Aufnahmen miteinander, lauscht unter den Kopfhörer der Stimme seiner verstorbenen Mutter, die er immer wieder das gleiche Märchen erzählen läßt.
Als Helen, die der Pubertierende so ausdauernd mit roten Wangen und Rosen umwirbt, so alt war wie Honda, wurde ihr Vater ermordet. Ihr damaliger Freund Martin (Alessandro Nivola) wanderte dafür ins Gefängnis. Nun acht Jahre später kommt Martin zurück in die Küstenkleinstadt und mit ihm die Erinnerung an den Mord, dessen Umstände nie restlos aufgeklärt wurden. Allen Warnungen seiner Bewährungshelferin zum Trotz drängt es Martin danach, Helen wiederzusehen. Die geht ihm aus dem Wege und verweigert die Auseinandersetzung.
Wer Vergangenes verdrängt, ist verdammt es zu wiederholen. Zu Beginn des Films fällt eine Leiche ins trübe Wasser, am Ende eine weitere. Der Plot in Michael Winterbottoms I want you ist überschaubar und die Geschichte vorwiegend Transportmittel für Stimmungen. Winterbottom ( Butterfly Kiss / Welcome to Sarajevo ) erzählt aus dem mehrfach gebrochenem Blick des jungen Flüchtlings. Wie sein stumm beabachtender Protagonist mixt auch der Regisseur aus dem vorhandenen Material einen eigenwilligen Gefühlscocktail, der sich vor allem durch seine visuelle Kraft ins Gedächnis einbrennt. Der Kieselowski-Kameramann Slavomir Idziak verfremdet mit seinem Farbfiltersatz die britische Küstenlandschaft zu bunten Gemälden. Grell schreit einem die Melancholie entgegen. Und aus dem Kassetten-Rekorder leiert immer wieder Elvis Costellos "I want You", das wie ein zärtliches Liebeslied beginnt und in rohen sexuellen Begehrlichkeiten endet. Denn auch davon handelt der Film. Von der dünnen Linie zwischen Liebe, Verlangen und Gewalt. Von der Macht in Beziehungen und von Mißbrauch. Von der Einsamkeit, die daraus entsteht, und dem Fremdsein im eigenen Leben. Michael Winterbottom beschreibt die widersprüchlichen Gefühlslagen seiner Figuren eindringlich, ohne jedoch eindeutige Erklärungsmuster zu bedienen. Und gerade das ist die eigentliche Stärke dieses Films, der nahegeht, ohne sich aufzudrängen und einen nicht mehr in Ruhe lassen will.

Martin Schwickert