»SCHÖN IST DIE JUGENDZEIT«

Schülerliebe

Ein sehnsüchtiger Blick zurück

Statistische Erhebungen zu diesem Thema sind mir nicht bekannt, aber ich denke man kann davon ausgehen, daß 95% aller schulpflichtigen Teenager, die das Glück haben, von gutaussehenden Lehrkräften unterrichtet zu werden, auch davon träumen, durch eben diese verführt zu werden. Der schwedische Regisseur Bo Widenberg hat sich in Schön ist die Jugendzeit in alten Jahren diesen feuchten Kleine-Jungen-Traum erfüllt.
Der Blick fällt zurück ins Malmö des Jahres 1943. Der Krieg geht zwar nicht spurlos an Schweden vorüber, aber der 15jährige Stig hat andere Sorgen. Während seine Schulkameraden vage Spekulationen über die Unwägbarkeiten des Geschlechtsverkehrs austauschen, ist Stig seiner Zeit voraus. Bis über beide Ohren hat er sich in die attraktive Englischlehrerin verliebt. Mit liebenswürdiger Genauigkeit widmen sich Kamera und Regie den zaghaften Annäherungsversuchen und den ausgeklügelten Strategien, mit denen der Jüngling einen Blick auf die Angebetete zu erheischen sucht. Als Viola - so heißt sie - dem unbeholfenen, aber stilsicheren Werben des Schülers nachgibt, weiß Stig zunächst nicht, wie ihm geschieht. Im Kartenraum kommt es zwischen ausgestopftem Waldgetier und geographischem Lehrmaterial zu Knutschereien heftigster Art. Die Verführung des Minderjährigen muß natürlich heimlich vonstatten gehen, aber das erhöht zuweilen den Thrill-Faktor ungemein.
Viola (Marike Lagercrantz) ist von der Liebe und von ihrer Ehe enttäuscht. Ihr Ehemann Frank (Thomas von Strömssen), ein praktizierender Alkoholiker und Handelsreisender in Sachen Damenunterwäsche, hat sie schon kurz nach der Hochzeit betrogen. Frank kann sich zwar für klassische Musik recht rührend begeistern, vernachlässigt hingegen seine ehelichen Pflichten ausgiebig. Mit ihren 37 Jahren könnte Viola Stigs Mutter sein - eine ödipale Liebeskonstellation also. Nur: Stig will Frank nicht umbringen. Im Gegenteil: der trunkene Melancholiker, der noch nicht einmal eifersüchtig wird, wächst ihm ans Herz, und mit der beginnenden Männerfreundschaft sinkt Stigs Interesse an der schönen Viola. Er steigt aus der komplexen, altersgemischten Dreierkiste aus und widmet sich Liebeleien mit gleichaltrigen Mädchen.
Wie viele Pubertätsfilme, die von betagten Herren gemacht werden, ist auch Bo Widenbergs Blick ein verklärender auf längst vergangene Jugendtage. Der deutsche Verleihtitel ist hier Programm. Der leibliche Sohn des Regisseurs Johan Widenberg spielt die Hauptrolle, ihm ist auch der Film gewidmet. Und so wundert es nicht, daß das Ganze wie ein filmgewordener Initiationsritus wirkt: die Verführung durch eine erfahrene Frau, die Lebensweisheiten eines väterlichen Freundes, die Reifung des Jungen zum Manne und am Schluß der Beginn eines eigenständigen Lebens.
Auch wenn die Geschichte in ihrer mustergültigen Reifungsdramaturgie sich eher an retrospektiven Wunschvorstellungen als an reellen Jugenderfahrungen orientiert, überzeugt Widenbergs Film durch die Detailgenauigkeit und die ruhige Beobachtungsgabe, mit der er sich seinen Figuren widmet. Der 20jährige Johan Widenberg ist zwar schon ein wenig alt für die Rolle, aber die Art, wie er mit kleinen Gesten Stigs verwirrte Gefühlslagen vermittelt, beeindruckt nachhaltig. Geradezu perfektionistisch ist die Ausstattung dieses Films, der bei der diesjährigen Berlinale den silbernen Bären mit nach Hause nehmen konnte. Jedes Stück Möbel ein Zeitkolorit, Farben und Licht sorgsam austariert, jeder Brotkrumen, der herumliegt, erscheint wie eine originalgetreu rekonstruierte Fleißarbeit des Requisiteurs. Über allen Bildern liegt der sanfte Schleier nostalgischer Verklärung und zwischen den Bildern eine Haltung, die sich in den meisten Jugendfilmen aus der Altherrenperspektive herauslesen läßt. Früher, ja früher, als die Jungs noch mit Taschenmessern an Holzstöckchen herumschnitzten, anstatt mit dem Joystick feindliche Flugobjekte zu eliminieren, da war die Welt noch in Ordnung. Schön, schön - schön war die Jugendzeit.

Martin Schwickert