JULIA

Allein gegen alle

Tilda Swinton spielt ein bisschen Gena Rowlands: »Julia« verneigt sich mächtig vor dem Cassavetes-Vorbild »Gloria«

Wenn Julia nach einem Besäufnis im Morgengrauen vor ihrer Haustür aus dem Taxi geschubst wird und niemand ihr vom Gehweg aufhilft, ist das erst der Anfang vom Ende.

Julia ist Mitte vierzig und säuft wie ein Loch. Der Lack des glamourösen Partygirls blättert schon seit ein paar Jahren kräftig ab. In der Bar macht sie auf Stimmungskanone, dabei ist sie nicht hier, um sich zu amüsieren, sondern um ihren Alkoholpegel in die Höhe zu treiben.

Julia wird von Tilda Swinton gespielt, und das muss man einfach gesehen haben. Wie sie ihre Figur am Morgen aufwachen lässt, mit trockener Kehle, zerlaufener Wimperntusche, klebrigen Kneipenmief auf der Haut und vagen Erinnerungen an den Vorabend in den blinzelnden Augen. Eine Frau, die sich am Rande des Abgrunds eingerichtet hat.

Beim Treffen der Anonymen Alkoholiker, wohin sie von ihrem Arbeitgeber geschickt wird, hält sie es keine zehn Minuten aus, lernt dort aber die Mexikanerin Elena (Kate del Castillo) kennen, die noch kaputter ist als sie selbst. Das Jugendamt hat ihr den Sohn weggenommen, der jetzt bei den schwerreichen Schwiegereltern lebt. Elena bekniet Julia ihr bei der Entführung des Kindes zu helfen.

Nun ist Julia alles andere als eine Samariterin. Sie wittert hier die Chance, endlich einmal zu Geld zu kommen. Sie entführt den Jungen, um die Großeltern zu erpressen. Und wie sie das tut, das hebelt alle Mutterinstinkt-Klischees aus den Angeln. Mit der Knarre vor dem Kopf will sie den Jungen zum Einschlafen bringen, fesselt ihn an eine Heizung oder lässt ihn nachts allein in der Wüste zurück. Julia ist kein Unmensch, aber sie kennt nur sich und ihre direkten Bedürfnisse. Woher soll sie wissen, wie man mit einem Kind umgeht, das zudem auch noch sehr viel schlauer daherredet, als erwartet. Natürlich misslingt das Erpresservorhaben und auf der Flucht durch die Wüste durchbricht Julia mit dem Auto die Grenze zu Mexiko. Eine Flucht in entgegengesetzter Richtung zum heutigen Migrantenstrom, so wie es die Helden früher etwa in Peckinpahs Filmen versucht haben.

Es ist ein wilder Genremix, den der französische Regisseur Erick Zonca ( Liebe das Leben ) in seinem ersten amerikanischen Film zusammenstellt. Was als Alkoholikerinnen-Porträt beginnt, gleitet langsam in ein Roadmovie und wird schließlich direkt ins düstere Gangsterfilmgenre katapultiert. Den kontrastreichen Genrewechsel übersteht der Film nicht unbeschadet. Vor allem im zweiten Teil entwickelt die allzu wendungsreiche Geschichte erheblich Längen.

Wenn Zonca es mit seinem Regievorbild nicht aufnehmen kann, so muss Tilda Swinton den Vergleich mit der Kinoikone Rowlands nicht scheuen. Sie ist es, die den Film mit einer wirklich grandiosen Performance zusammenhält. Sicheren Schrittes wandelt sie hier auf wackeligen Stöckelschuhen an den seelischen Abgründen entlang, entblößt die Einsamkeit, Fragilität, Egozentrik und Zerstörungskraft ihrer Figur, ohne sie bloßzustellen. Keine eitle Tour de Force, sondern eine höchst differenzierte, sensible, grandiose schauspielerische Leistung.

Martin Schwickert

F/USA/Mexiko/Belegien 2008 R: Erick Zonca B: Aude Py, Erick Zonca K: Yorick le Saux D: Tilda Swinton, Saul Rubinek, Kate del Castillo


Das Interview zum Film