DIE KARTE MEINER TRÄUME

Jungs, Züge, Toaster

Jean-Pierre Jeunet macht aus dem Bestseller einen Pop-Up-Film

Alle waren begeistert, als Reif Larsen vor fünf Jahren seinen überquellenden Roman schrieb und Reif Larsen war begeistert, als Jean-Pierre Jeunet ihn verfilmen wollte. Nach Anblick des Rohschnitts äußerte er sich nur noch zurückhaltend kryptisch. Literaturverfilmungen würden durch Werktreue ja nicht besser. Im Umkehrschluß müsste dieser Film ziemlich gut sein.

Jedenfalls sieht er sehr gut aus. Grün und golden prangt die Landschaft irgendwo in Montana, märchenhaft rot steht ein Farmhaus darin, übermütig tollen zwei süße Knaben über Weide und Wasserpumpe, und altklug stellt uns Tecumseh Sparrow Spivet, eine Mischung aus Huckleberry Finn und Harry Potter, seine Welt per Voice Over vor. Seine ältere Schwester, die nur an Schönheitswettbewerbe denkt, seinen wortkargen Vater, den archetypischen Cowboy, seine verhuschte Mutter, die Käfer sammelt, und seine eigene Leidenschaft, alles aufzuzeichnen, Skizzen anzufertigen, Experimente zu machen. Etwa über den Schallverlauf eines Gewehrschusses. Der seinen Bruder tötete.

Bis dahin sind wir noch nah am Buch und ziemlich angetan von Jeunets Einsatz der 3D-Technik, die sich wunderbar mit seinem Hang zu skurrilen Details verträgt. Tecumsehs Zeichnungen überlagern die Filmbilder, zunehmend kippen die Arrangements ins Symbolische. Etwa wenn seine Mutter regelmäßig ihre Toaster durchbrennen lässt und ihre Leichen auf einem Regal sammelt, wie ihre Käfer.

Überraschend wird T.S., eigentlich nur genialer Chronist von allem und penibler Zeichner, ans renommierte Smithsonian-Museum in Washington gerufen. Er hat wohl das Perpetuum Mobile erfunden und soll, in Unkenntnis seines Alters, dafür einen Wissenschaftspreis bekommen. T.S. verlässt sein dysfunktionales Zuhause und trampt als Hobo quer durch das Land. Unterwegs kommt er seiner Familie, die ihn nie verstand, langsam näher. Dafür entfernt sich Jeunet immer weiter von Larsen, macht aus dessen zum Bersten voller Wunderkammer eine optisch beeindruckende Viewmaster-Tour, die trotz 3D seltsam flach wirkt. Und vor allem gegen Ende viel zu lang. Nach 460 Seiten Buch kann eine Familienzusammenführung erlösend sein, nach 105 Minuten Film ist sie eher kitschig.

Trotzdem ist "Amelie in Amerika" eine Schau. Und hat in seinem deutlich europäischen Zugriff auf Land und Leute mehr mit Paris, Texas zu tun als mit Jeunets letztem amerikanischen Experiment Alien 4.

Wing

The Young and Prodigious T.S. Spivet. F/K 2013. R: Jean-Pierre Jeunet B: Jean-Pierre Jeunet, Guillaume Laurant K: Thomas Hardmeier D: Helena Bonham Carter, Judy Davis, Callum Keith Rennie, Kyle Catlett, Niamh Wilson, Dominique Pinon. 105 Min.