KINSEY

Der Fragebogen
Alfred C. Kinsey schuf die Grundlagen für die Sexuelle Revolution

Nur wenige Forscher haben die Welt verändert. Der gelernte Zoologe Alfred C. Kinsey gehört dazu. Dabei hat er nichts Neues entdeckt, keine geheime Formel oder bahnbrechende Theorie entwickelt. Er hat sich nur mit den Menschen über etwas unterhalten, über das damals, Ende der 40er Jahre, nur selten gesprochen wurde: Sex.
18.000 Amerikaner hat Kinsey interviewt. Seine empirischen Studien über das Sexualverhalten von Männern und Frauen waren der Grundstein für die sexuelle Revolution in den Sechzigern. Die Kinsey-Reports zeigten, dass Masturbation ein Massensport, Homosexualität ein weit verbreitetes Phänomen und die Missionarsstellung nicht die allein selig machende Kopulationskonfiguration ist.
Eigentlich war Kinsey Insektenforscher. Eine Millionen Gallwespen hat er untersucht hat und ist dabei zu der Erkenntnis gekommen, dass die Unterschiedlichkeit der einzig gemeinsame Nenner in der Natur ist. Dies bleibt auch seine Maxime, als er beginnt, das Sexualverhalten der Menschen zu erforschen. Er tut dies durch Interviews, und immer wieder zeigt Regisseur Bill Condon in seiner gelungenen filmischen Biographie, mit welchem Gefühl der Erlösung die Befragten das Schweigen über ihr Liebesleben brechen. Die Kinsey-Reports wühlen das Land auf, denn sie zeigen deutlich, dass vieles, was die öffentliche Moral als Perversion ausgrenzt, in Amerikas Schlafzimmern längst Normalzustand ist. Solche Thesen bleiben in den 50er-Jahren nicht ungestraft, und so gerät Kinsey (Liam Neeson) wenige Jahre vor seinem Tod ins Fadenkreuz der Hoover-Tribunale.
Bill Condons Kinsey ist von der großen Welle der Biopics, die gerade in die Kinos schwappt, mit Abstand der interessanteste Film. Condon ist nicht an einem Heldengemälde gelegen. Immer wieder zeigt er, in welche Widersprüche sich Kinsey in seiner Arbeit und in seinem Privatleben verwickelt. Dass er seine Mitarbeiter selbst als Versuchspersonen heranzieht, führt zu zwischenmenschlichen Problemen, mit denen der Insektenforscher Kinsey oftmals überfordert ist. Seine Expeditionen in schwule Lebenswelten stellen die Ehe mit Mac (Laura Linney) auf eine harte Probe. Liam Neeson legt den Forscher als jungenhaft, linkische, aber ungeheuer willensstarke Figur an, die durch ihre persönliche Integrität tausende Amerikaner dazu bringt, ihm ihre intimsten Geheimnisse anzuvertrauen. Ohne ins politisch plakative zu verfallen, macht Bill Condon klar, aus welcher moralischen Engstirnigkeit Kinseys Studien das Land befreit haben. In Zeiten, in denen die amerikanische Moral-Majority zum Rollback rüstet, kommt ein Film wie dieser gerade richtig. Immerhin: bis heute steht in neun US-Bundesstaaten Oralsex noch unter Strafe.

Martin Schwickert
USA 2004 R&B:Bill Condon K: Frederick Elmes D: Liam Neeson, Laura Linney, Chris O'Donnell