ELISABETH KÜBLER-ROSS - DEM TOD INS GESICHT SEHEN

Sterben lernen

Stefan Haupt besucht eine Ikone

Die alte Dame kann schon lange nicht mehr laufen, aber immer noch kräftig zupacken. Zu ihrer fertig geplanten Beerdigungsparty etwa will sie unbedingt Luftballons mit Steven Spielbergs E.T . steigen lassen. Man riet ihr ab, wegen Copyright und Lizenzgebühren. Sie ließ sich das Telefon bringen, rief den Regisseur an und kriegte die Genehmigung, ihren eigenen Toten-Tand anfertigen zu lassen. Beeindruckend.
Jahrzehnte früher, die Schweizer Ärztin in Amerika war mit ihren "Interviews mit Sterbenden" zum Welt-Star geworden, befand ihr Mann, er und die Kinder litten unter der ständig auf Vortragsreisen abwesenden Mutter. Die packte daraufhin ohne zu zögern endgültig die Koffer und verließ die Familie. Bezeichnend.
Für den Dokumentarfilm Stefan Haupts ist bezeichnend, dass er solche und andere "Flecken" in der Biografie nicht verschweigt (etwa wie Elisabeth Kübler-Ross einmal haltlos auf esoterische Scharlatane hereinfiel), aber die Hauptperson nicht danach fragt. Dabei wirkt die alte Dame, zwar gezeichnet von vielen Schlaganfällen und etwas brummig, weil der Tod sie noch nicht haben will, energisch genug, um sowas auszuhalten.
Er betrachtet lieber ausdauernd ihr Gesicht, lässt seine Kamera immer wieder durch leere amerikanische Landschaften und Jahreszeiten fahren, filmt viel Himmel mit Wolken als Folie für einen chronologischen Bericht der Karriere Kübler-Ross', und schneidet Archiv-Material und Gespräche mit Elisabeths Schwestern, ihrem Pfarrer und einigen wenigen Bekannten hinein. Ex-Mann, Sohn und Töchter aber kommen nicht vor.
Eine irgendwie wissenschaftliche Einschätzung des Lebenswerks findet auch nicht statt. Nicht mal ein persönliches Fazit. Kein Gedanke daran, ob oder wie die Stationen ihrer Arbeit, die frühe Enttabuisierung des Sterbens für den Klinikbetrieb, die Entwicklung der "Sterbebegleitung" als Therapie für Sterbende und Freunde, der "Beweis" des Lebens nach dem Tod durch manisches Sammlen von Nah-Tod-Berichten, die kalifornische Esoterik-Phase und der bis ins hohe Alter scheinbar florierende Betrieb von immer neuen Seminarzentren inhaltlich zusammenhängen. Keine Fragen nach Irrtümern oder Änderungen der Auffassung, keine Hinweise auf Kritiker, Kollegen, Schüler ... nur die seltsam ruhig erzählte Geschichte, wie Dorfbewohner in Virgina 1994 wohl Kübler-Ross' "Healing Waters"-Farm abbrennen. Der Brandstiftungsverdacht wurde aber nie bestätigt.
Neben der journalistischen Schwäche fallen einige Kunstgewerblichkeiten in der Bildgestaltung störend auf, aber alles fängt sich in der Betrachtung der Gesichter. Der Lebenden.
Eine Schwester Elisabeths starb während der Dreharbeiten, die trotzig allein lebende Elisabeth musste nach Drehende in ein Pflegeheim umziehen, von wo sie Stefan Haupt anrief: sein Film über sie sei "verflixt schön". Stimmt. Und er ist überhaupt nicht deprimierend.
Unter anderem, weil Elisabeth Kübler-Ross die letzten Worte hat: "Ich glaube an ein Leben nach dem Tode. Aber ich will nicht wieder kommen. Ich lerne jetzt noch ein paar Sachen, die man zum Leben braucht, und dann ist es gut. Ich werde mit den Galaxien tanzen. Und ich freue mich darauf."

WING

Schweiz 2002, 98 Min, R., B.: Stefan Haupt