»LAGRIMAS NEGRAS«

Beckenkreisen

Fünf alte Herren aus Kuba machen Musik

Im stattlichen Alter von 62 Jahren ist Ricardo Ortiz das Küken in der legendären Son-Formation "Vieja Trova Santiaguera". Mit Mitte Achtzig - die meisten hatten bis dahin Kuba noch nie verlassen - begeben sich die Musiker 1997 auf eine sechsmonatige Welttournee. Der Kuba-Boom in der westeuropäischen Musikszene hat dem Quintett zu spätem Weltruhm verholfen. Wenn sie in der Garderobe vor dem Auftritt die Fliege umbinden, gelingt das mit den zittrigen Fingern selten beim ersten Mal.
Während des Konzerts scheinen jedoch alle geriatrischen Gebrechen mit dem ersten Akkord aus den Gliedern zu fahren. Der Krückstock wird beiseite gelegt, die Füße tänzeln in kleinen Schritten taktgenau, die Hüften wiegen sich elastisch zum Rhythmus der Musik. Mit sanfter klarer Stimme singen die Alten vom Glück und von der Liebe, von den Frauen und ihrem Land und verwandeln dabei das europäische Konzertpublikum in eine willenlos beckenkreisende Masse.
In ihrem Dokumentarfilm Lagrimas Negras spürt die niederländische Filmemacherin Sonia Herman Dolz der Lebensgeschichte der betagten Musiker nach. Auf Hotelbetten lümmelnd prahlen die Alten vom ausuferndem Liebesleben. Von einer stattlichen Zahl unehelicher Kinder ist da ebenso die Rede, wie von dem "Stift, der heute keine Tinte mehr gibt". Vor der Revolution waren sie Bahnschaffner oder Maurer und traten nach Feierabend in den Bars von Santiago de Kuba auf. Castro machte sie zu Berufsmusikern, staatlicherseits entlohnt in der obersten Kategorie "A", wie man nicht ohne Stolz betont. Die Revolution hat ihnen einen Traum erfüllt und deshalb ziehen die Herren am Grabe von Karl Marx in London respektvoll den Hut.
Lagrimas Negras ist ein Film über Menschen, die ihr langes Leben der Musik gewidmet haben und im hohen Alter noch zu Weltruhm gelangten. Das bringt gewisse Verklärungen mit sich. Das Leben im heutigen Kuba nimmt der Film nur selektiv wahr. Stilvoll gealterte Luxuslimousinen in strahlender Nachmittagssonne, musizierende Kinder im Park und beseelt tanzende Paare am Straßenrand rückt die Kamera immer wieder gerne ins Bild. Von Versorgungsnotstand, Dollar-Prostitution und Blockade-Politik ist nichts zu sehen. Der Rhythmus der Son-Musik hat - verständlicherweise - auch aus diesem Dokumentarfilm alle gegenwärtigen Sorgen verbannt.

Martin Schwickert