»LÜGEN & GEHEIMNISSE«

Good Morning, Tristesse

Unter jeder Palme liegt ein Keller voller Leichen, lächelnd

Jaja, ich bin ein Banause - aber Rohmer-Filme sehe ich mir lieber an, wenn sie wirklich von Eric sind. Und bloß weil ein übergewichtiger Mann mit Bart ein dickes Herz und Streß mit keifenden Frauen hat, muß ich mich doch nicht betroffen fühlen. Allerdings kriegte Mike Leighs Secrets & Lies auf den Filmfestspielen in Cannes einhellig die Goldene Palme verpaßt, was zu dem Gedanken führt, die Kunst des langen Elends (2 Stunden 22 Minuten) könnte irgendwie der deutschen Titel-Wort-Umstellung zum Opfer gefallen sein. Oder der nervtötend piepsigen Synchronstimme von Brenda Blethyn, die deren Darstellerinnen-Preis in Cannes als Tapferkeitsmedaille für die verheulteste Frühverblühte der Saison erscheinen läßt.
Jaja, ich bin ungerecht - jedoch zwischen das geplagte Stöhnen im Zuschauerraum (bei der ersten Vorstellung in unserer Stadt war ich allein, ein eklatantes Versagen der Kino-Reklame) mischte sich zuweilen ein Schmunzeln über etwas englischen Humor (wenn auch grauen statt schwarzen) und dann und wann ein erkennendes Grunzen, wenn die Regie das unaufdringliche Beobachten mit inszenatorischen Einfällen unterbrach. Schon ganz am Anfang: da schwenkt die Kamera eine getragene Begräbnisfeier ab, die Trauergäste sind fast alle schwarz, dann kommt rostige Industriearchitektur ins Bild, dann fotografiert plötzlich der weiße dicke Mann von oben eine weiße, sichtlich überforderte Braut im Ankleidezimmer ... und wir ahnen hinter jeder Geste ein Gerüst, vor jeder Emotion eine Emulsion, und das Konflikt-Konzept in allem: die Gegensätze müssen sich anziehen.
Jaja, ihr seid auch ungeduldig - doch der Film läßt sich viel Zeit mit der Vorstellung seiner Figuren. Die sind: eine alleinerziehende Fabrikarbeiterin Mitte Vierzig im leeren, verfallenden Elternhaus; ihre ständig frustmundige Tochter kurz vor dem 21. Geburtstag; ihr hochzeitsfotografierender Bruder im Mittelklasse-Wohlstand; dessen Schöner-Wohnen-Frau mit Menstruations-Beschwerden (Phyllis Logan hätte einen Preis verdient für die Wandlungsfähigkeit von pferdegesichtiger Zimtzicke zum liebenden Herzen in Tränen) - und die schwarze Optikerin, die am Anfang ihre Adoptivmutter verlor und nun auf die Suche nach ihren biologischen Wurzeln geht.
Jaja, das gehört nicht hierher - nur gewinnt der Film immens, wenn man bedenkt, daß er in Deutschland eine Komödie geworden wäre. Denn die Optikerin ist die verschwiegene, weggebene Frühgeburt der Fotografen-Schwester. Komischerweise fiel der seelisch schwer begeisterten Kritik die wahrnehmungstheoretische Metaphern-Vorlage von Seh-Gehilfin und Abbildungs-Arbeiter gar nicht auf - und Mike Leigh konzentriert seine Regie-Ideen auch eher auf den Nebenstrang der Posen-Reiterei beim Fotografen: wie ein Crossover aus frühem Greenaway und spätem Fellini werden schockweise englische Fratzen vorgeführt - und wie sie ihre Fotos unwahr haben wollen - und wie die Verstellung erst ihr echtes Wesen offenbart. Das ist alles andere als zynisch gemeint, das ist gut gemacht, das simuliert zumindest die Schärfe, die der Hauptgeschichte fehlt.
Jaja, ich bin ein grober Klotz - jedoch rührt es auch mich, wenn sich die scheinharmonische Tochter-Geburtstagsfeier der durch auch noch diverse andere Geheimnisse und Lügen getrennten Familie in ein schluchzendes Desaster verwandelt. Wenn sich die Frauen reihum ihre Fehler und Verletzlichkeiten zeigen. Wenn der korpulente Kerl (Timothy Spall, Mike Leighs Lieblingsschauspieler, nicht nur wegen der Gesichtsähnlichkeit) Leichen-Keller und Mörder-Grube durch ein Plädoyer zur Wahrheit aufräumt - und wenn und weil er dabei immer noch nicht wie ein Held aussieht. Am Ende sitzt die uneheliche Doppelmutter mit ihren gemischt-gefärbten Kindern im verrotteten Hinterhof-Garten und trinkt Tee. So läßt's sich leben, sagen alle lächelnd. Schön wär's. Bzw. nicht schön, aber wohl wahr.

WINGÜÜÜ