LEMMING

Zwei Gesichter

Ein kluges Verwirrspiel um Tod, die Liebe und das Leben

Alain Getty (Laurent Lucas) hat sein Leben im Griff. Der junge Software-Ingenieur hat gerade im südfranzösischen Bel Air einen neuen Job in einer Hausgerätefirma angefangen. Sein erstes Pilotprojekt ist vielversprechend: eine fliegende WebCam, die ferngesteuert durch die Wohnräume propellert, um live von Wasserschäden, Einbrechern oder sonstigen Unregelmäßigkeiten im voll kontrollierten Eigenheim zu berichten.
Der kleine Hubschrauber, der in Dominik Molls eigenwilligen Thriller fast lautlos von Raum zu Raum schwebt, ist ein perfekt konstruiertes Hi-Tech-Gerät - und eine amüsante Metapher für die Fragilität menschlicher Kontrollsehnsüchte und Allmachtsfantasien.
Wie schon in seinem Kinodebüt Harry meint es gut mit dir dekonstruiert Moll auch in Lemming das Sicherheitsgefühl eines jungen Paares auf dem Weg in die gesellschaftliche Etablierung. Alain und seine Frau Bénédicte (Charlotte Gainsbourg) sind ein Paar, das sich seiner Liebe und seiner Zukunft gewiss ist, bis eines Tages der Abfluss verstopft und der Chef sich zum Abendessen einlädt. Mit mehrstündiger Verspätung reist Richard Pollock (André Dussolier) samt sonnenbebrillter Gattin (Charlotte Rampling) an, und noch vor dem Hauptgericht kommt es zu Eklat, weil Alice ihren Mann in äußerst unfeiner Diktion des Ehebruchs bezichtigt. Noch in der gleichen Nacht zieht Alain einen Lemming aus dem verstopften Abfluss - ein skandinavischer Kleinnager, der in südfranzösischen Entwässerungssystemen wirklich nichts zu suchen hat.
Die exzentrische Alice und das suizidverdächtige Pelztier sabotieren fortan das junge, bürgerliche Glück. Alice versucht Alain zu verführen, lädt sich bei Bénédicte zum Mittagschlaf ein und erschießt sich kommentarlos im Gästezimmer. Mit dem Selbstmord zieht der Zweifel in die Liebesbeziehung ein. Während Alain das Leben aus dem Ruder läuft, scheint sich Bénédicte immer stärker mit der Toten zu identifizieren.
Bruchlos schlendert Moll zwischen Genreversatzstücken von Liebeskomödie, Psychodrama und übernatürlichem Thriller hin und her. Chabrols schonungslose Analyse des Bürgertums und Hitchcocks psychologisches Suspense-Konzept lassen ebenso grüßen, wie die Seelenwanderungs-Fantasien von The Sixth Sense. Aber Moll entwickelt aus den Versatzstücken seinen eigenen Erzählstil, der nicht auf herausgestellte Plotwendungen setzt, sondern auf eine mäandernde Dramaturgie, in der man zu keiner Zeit vor Überraschungen sicher ist.
Das alles geschieht völlig uneitel, ohne visuellen Schnickschnack und mit einer spartanisch bestückten Tonspur. Moll setzt auf seine Schauspieler, vor allem auf Charlotte Rampling und Charlotte Gainsbourg, zwei vollkommen verschiedene, markante, absorbierende Frauengesichter, die miteinander konkurrierend und ineinander verschwimmend dem Film seine eigenwillige Intensität verleihen.

Martin Schwickert

Lemming F 2005 R&B: Dominik Moll K: Jean-Marc Fabre D: Charlotte Rampling, Charlotte Gainsbourg, André Dussolier, Laurent Lucas


Das Interview zum Film